OCR
Efraim Zuroff In Leitland stellt ein neues Stück Herbert Cukurs als Nationalhelden dar — und nicht als den grausamen Judenmörder, der er war. Am 11. Oktober 2014 fand in der lettischen Hafenstadt Liepaja die Premiere eines neuen Musicals statt. Es war die Premiere einer landesweiten Tournee. Solch ein Ereignis wäre kaum der Rede wert, wäre es ein einfaches Beispiel seichter Unterhaltung. Stattdessen wird mit dem Musical schamlos versucht, einen der berüchtigsten Massenmörder von Juden im Baltikum während des Holocaust zu rehabilitieren. Der Protagonist des Stückes ist Herberts Cukurs, stellvertretender Kommandeur des berüchtigten Kommando Arajs, das im Jahr nach der Nazi-Invasion Lettlands eine tragende Rolle bei der Massenvernichtung der Juden von Riga und im gesamten Land spielte. Später war er aktiv an der Tötung von Juden in Weißrussland (insbesondere aus dem Ghetto von Minsk) beteiligt. Obwohl Cukurs’ Rolle bei den Gräueltaten hinlänglich bekannt war, gelang es ihm wie vielen baltischen Nazikriegsverbrechern einer Verurteilung zu entkommen und nach Übersee zu flüchten, in seinem Fall nach Brasilien. Dort entdeckt, forderten die Sowjets seine Auslieferung, um ihn für seine Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Doch Brasilien lehnte eine Auslieferung mit der Begründung ab, sie würden ihn nur in jenes Land zurückschicken, in dem er seine Verbrechen begangen habe. Allerdings: Lettland existierte nicht mehr. Die so entstandene rechtliche Grauzone, die Cukurs strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung verhinderte, sowie die drohende Möglichkeit der Verjährung in Fällen von Nazikriegsverbrechen in Deutschland bewog Israel zu einer untypischen Vorgehensweise: Ein Team von Mossadagenten wurde entsandt, Cukurs zu exekutieren. Ironischerweise war es dieser Vergeltungsakt, 1965 in Montevideo durchgeführt, der den Weg für die aktuellen Versuche seitens der Familie Cukurs und lettischer Ultranationalisten bahnte, ihn von seinen Verbrechen reinzuwaschen. Die Kampagne startete vor einigen Jahren mit der Verbreitung von Briefkuverts, die Cukurs’ Konterfei zeigten, einer Ausstellung mit dem Titel „Herberts Cukurs: Die Unschuldsvermutung“ sowie einem Dokumentarfilm, der seine Unschuld darzustellen suchte. Um das zu verstehen, muss man sich Cukurs Status als lettischer Nationalheld der Dreißigerjahre bewusst machen. Berühmt wurde er als kühner Flieger, der Flugzeuge selbst entwarf und alleine „exotische“ Ziele in Afrika (Gambia) und im Fernen Osten (Tokyo) ansteuerte. Er flog sogar nach Palästina und hielt später in Riga Vorträge vor jüdischem Publikum. Diese Berühmtheit ist es, die, zusammen mit der Tatsache, dass Cukurs nie gerichtlich für seine Holocaustverbrechen verurteilt wurde, die Grundlage der Kampagne bildet, sein nationales Ansehen in Lettland wiederherzustellen. Hand in Hand mit aktuellen Bestrebungen, das Narrativ des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts im Baltikum umzuschreiben, wird damit eine Bagatellisierung der höchst bedeutsamen Rolle lokaler Kollaborateure bei den Morden beabsichtigt und der Focus auf die Wahrnehmung des baltischen Opferstatus unter dem Kommunismus gelegt. 32 _ ZWISCHENWELT Die stärksten Argumente gegen solche Versuche, Massenmörder wie Cukurs wieder zu Nationalhelden zu erheben, sind die zahlreichen Zeugnisse jüdischer Überlebender, von denen viele bereits kurz nach Ende des Krieges aufgezeichnet wurden. In dieser Hinsicht gereichte Cukurs seine schon vor dem Krieg erworbene Bekanntheit nicht zum Vorteil. Im Unterschied zur großen Mehrheit anderer lettischer Nazikollaborateure war Cukurs weithin bekannt und somit für etliche seiner ehemaligen Opfer leicht identifizierbar. So auch von Rafael Shub, der in einer Zeugenaussage, die ich in den Archiven von Yad Vashem gefunden habe, berichtet, am 2. Juli 1941 habe Cukurs acht Juden am neuen (jüdischen) Friedhof in Riga bei lebendigem Leibe verbrannt. Shub konnte alle Opfer identifizieren: den Synagogendiener Feldheim, dessen Frau und die vier Kinder sowie den Kantor Mintz und dessen Frau. Ein anderer Überlebender, Abraham Shapiro, der im Hauptquartier des Kommando Arajs festgehalten wurde, bezeugte, dass Cukurs persönlich zwei Juden ermordete, die nicht imstande waren, seine Befehle auszuführen. Später bezeugte er auch sexuelle Übergriffe und Folter durch Cukurs und andere lettische Offiziere an einem jungen jüdischen Mädchen, während er, Shapiro, dazu Klavier spielen musste. Die erdrückendsten Beweise kamen von Max Tukacier, der Mitgliedern der Rechtsabteilung des Zentralkomitees der Befreiten Juden in Deutschland 1948 berichtete, wie Cukurs Männer, Frauen und Kinder schlug und exekutierte, die nicht Schritt halten konnten, als die Juden von Riga am 30. November und 8. Dezember 1941 in Gewaltmärschen in den Wald von Rumbula außerhalb der Stadt getrieben wurden, um dort ermordet zu werden. Tukacier erinnerte sich auch, wie der berühmte Flieger einem älteren Juden befahl, vor einer Menge lettischer Polizisten und Gefangener im Hauptquartier des Kommando Arjas eine zwanzigjährige Jüdin zu vergewaltigen. Als er es nicht schaffte, befahl er ihm, das nackte Mädchen am ganzen Körper wieder und wieder zu küssen. Etwa zehn bis fünfzehn weibliche und männliche Gefangene, die diese Demütigung nicht mitansehen konnten, wurden von Cukurs zu Tode geprügelt. Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass solche Zeugnisse nicht Teil des Musicals sind. Ein You Tube-Trailer des Stückes mit dem bekannten lettischen Sänger Juris Miller rief enthusiastische Reaktionen hervor, aber anscheinend keinerlei Protest. Im heutigen Lettland ist es für viel zu viele Letten Cukurs, der ihre Sympathie genießt, während seine jüdischen Opfer vergessen oder, schlimmer noch, aus dem historischen Gedächtnis überhaupt getilgt werden. Aus dem Englischen von Daniel Müller. Efraim Zuroff ist Forschungskoordinator fir Nazi-Kriegsverbrechen des Simon Wiesenthal Center und Direktor seines israelischen Büros. Sein neuestes Buch ist „Operation Last Chance; One Man's Quest to Bring Nazi Criminals to Justice“. Seine Website: www.operationlastchance.org. Auf Twitter findet man ihn unter @EZuroff. Paulus Adelsgruber Von aktuellen politischen Meinungen, multiplen Identitäten und historischen Narrativen. Eingefangen während einer Reise nach Russland und in die Ost- und Westukraine Grenzen sind rar geworden in Europa, das gilt auch für den östlichen Teil des Kontinents: Wer mit dem Auto von Wien über Polen nach Russland fährt, dem stellen sich nur noch die Wachposten der polnisch-belarussischen Grenze bei Terespol/Brest in den Weg. Der Bug bildet hier die Grenze zwischen der Schengenzone und der Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan. Ich habe die Einladung meines russischen Freundes Dmitrij gern angenommen, ihn nach Schaworonki bei Moskau zu begleiten. Dmitrij ist Dokumentarfilmer, sein aktuelles Filmprojekt dreht sich um seine eigene Familiengeschichte zwischen Sibirien, Polen und Wien. Während der Reise ging es mir auch darum, mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch zu kommen und angesichts des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine die politische Stimmung auszuloten. Bald war daher auch der Entschluss gefasst, nicht nur Russland zu besuchen, sondern auch die Ukraine. Nach Moskau, nach Moskau! Am 15. Juni 2014 nehmen wir die zweitausend Kilometer in Angriff, Ausgangspunkt ist meine Wahlheimat Gänserndorf bei Wien. Mit dabei ist auch Agata, Dmitrijs Moskauer Studentin, die ihm in Wien als Kamerafrau zur Seite stand. Ihr persönlicher Hintergrund zeigt, wie schr der gegenwärtige Konflikt zur Belastungsprobe innerhalb von Familien geworden ist: In der Ukraine geboren, wuchs sie bei ihrer Mutter in Moskau auf, der Vater blieb im ostukrainischen Charkiw. Während die Mutter im aktuellen Konflikt gewisses Verständnis für das russische Vorgehen zeigt, beurteilt es der Vater als Akt der Aggression. Im Familienkreis werde das belastende Thema so weit wie möglich ausgeblendet. Kein leichtes Unterfangen, gibt es da ja auch noch die Verwandten auf der Krim, die der Annahme der russischen Staatsbürgerschaft bisher ablehnend gegenüberstehen — mit denkbar unerfreulichen Konsequenzen: Über Nacht staatenlos geworden, müssten sie gemäß den geltenden Bestimmungen jährlich in Moskau um eine Aufenthaltsgenehmigung ansuchen. Der weißrussische Grenzbeamte am Zollamt Brest-Litowsk stellt Bedingungen, che er den Schlagbaum öffnen will: Obwohl ich bereits über eine Auslandsreiseversicherung verfüge, muss für den Transit durch Lukaschenkos Reich eine weitere Versicherung her. Wir überqueren das Land auf schnurgeraden Strassen, lassen Minsk und Witebsk links liegen, Orscha rechts, und erreichen nach acht Stunden Russland. Schaworonki ist ein beschaulicher Vorort 30 Kilometer westlich von Moskau. Alte Holzhäuser mit schönen Gärten, einige wenige Plattenbauten und eine zunehmende Anzahl von Luxusdomizilen reicher Stadtflüchtlinge prägen das Bild. Wie Agata erweist sich auch Quartiergeber Dmitrij als schlechter Anwalt der russischen Volksseele: Die Annexion der Krim inklusive Hurrapatriotismus sind ihm ebenso suspekt wie die russische Schützenhilfe in der Ostukraine. Das Vorgehen Moskaus interpretiert er als Unvermögen des gekränkten Riesen, mit politischen Mitteln zu Ergebnissen auf der internationalen Bühne zu gelangen. Der Kampf um Quadratmeter sei schlicht ein Rückschritt in vergangene Jahrhunderte und diene nicht zuletzt auch zur Ablenkung von Problemen im Inneren. Meine Moskauer Freunde Viktor und Irada haben andere Sorgen. Die Ära Putin wird von den Mittdreißigern in erster Linie mit steigenden Einkommen und politischer Stabilität in Verbindung gebracht. Der aus Usbekistan stammende, russischstämmige Viktor arbeitet als Dolmetscher in einem Notariat, Irada im mittleren Management im Lebensmittelgroßhandel. Als ich Viktor von meinen Reiseplänen in die Ukraine erzähle, fragt er halb im Scherz, ob ich mich denn wirklich zu den Kiewer Banderowzy begeben wolle. Der Begriff bezeichnet die Anhänger des nationalistischen Lemberger Politikers Stepan Bandera (1909 — 1959). Seit dem Euromajdan wird er oft als abwertender Sammelbegriff fiir alle Ukrainer verwendet. Die Ukrainekrise ist in diesen Tagen das dominierende Thema in der Offentlichkeit, die medialen Fronten sind klar abgesteckt: Die als „faschistische Junta“ gebrandmarkte Kiewer Regierung führe nichts anderes im Schilde als die Vernichtung der eigenen Bevölkerung. Den Separatisten, von den Massenmedien tituliert als Opoltschenzy („Volksaufgebot“), obliege hingegen die Verteidigung des Donbass. Die rege militärische und personelle Unterstützung durch Russland bleibt hingegen weitgehend ausgespart. Der Widerstand gegen Kiew erscheint so als ein Anliegen, das ganz von der ortsansässigen Bevölkerung getragen werde. Den überzeugtesten Anhänger eines autoritären russischen Staates finde ich auf dieser Reise dort, wo ich es am wenigsten vermutet hätte: Der 38-jährige Tadschike Achmed wohnt zusammen mit seiner Frau und sieben Kindern in einem Holzschuppen in Schaworonki. Auf der lokalen Ebene ist die Familie besser integriert als von mir zunächst angenommen: Die Kinder profitieren Die Behausung des Tadschiken Achmed. Foto: P. Adelsgruber