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für - ja, für ein Verständnis und für eine gemeinsame Aufarbeitung, nirgends anders kann eine solche beginnen, auch nicht der Respekt, von dem gern gesprochen wird. Mir kommt ein mir selbst befremdlicher Gedanke in den Sinn: Vielleicht müssen alle Zeitzeugen erst sterben, damit ihr Anspruch, wie wir ihrer Meinung nach mit der Geschichte und miteinander umzugehen haben, verblasst, damit die Nachkommen auf ihre Weise damit fertigwerden können. Diesen Prozess zu dokumentieren, wäre wohl interessant, aber zum 80. und 90. Jahrestag der Befreiungsfeiern will ich, denke ich, nicht mehr fahren. Zugleich erschrecke ich vor diesem völlig neuen Gedanken - ist es ein geheimnisvoller Einfluss des Enkels und dessen Nähe? Muss ich mir selbst fremde Gedanken entwickeln, um weiterzukommen, so wie ich dies ihm abverlange? Wir werden vom Gedenkdiener in eine Synagoge geführt, oder ist es das museale Relikt, die Rekonstruktion einer Synagoge? Es geht aus der Situation in diesem Moment bezeichnenderweise nicht wirklich hervor; die Amerikanerin mahnt mich, mir eine der Kippas aufzusetzen, die am Eingang bereitliegen, bevor ich noch danach greifen kann. Rainer Höß wartet im Vorraum. Drinnen herrscht nun hallendes Schweigen, bis der Amerikaner leise ersucht, die Ihorarollen aus dem Schrein herausnehmen und anfassen zu dürfen, was ihm der Gedenkdiener gestattet. Auch ich gehe in den Vorraum, betrachte die Projektionen alter Fotografien belebter Straßen und Plätze dieser Stadt, die von einem Beamer aus dem historischen Gebälk kommen, und als ich wenig später versucht bin, durch ein Fenster in der Mauer in den Nebenraum zu spähen, als könnte ich so einen Blick in eine nicht-aufbereitete Vergangenheit werfen, sche ich wie im Traum einen eingekleideten Rabbiner in der Synagoge stehen, der dort erschienen ist, umgeben von Menschen. Ich gehe rasch zum Eingang der Synagoge, und da ist der Rabbiner als der Amerikaner zu erkennen, er wird diese Augenblicke, in der er sich als Rabbiner in der Synagoge von Auschwitz wiederfand, nie vergessen. Es ist früher Abend, obwohl der nächste Zug in 5 Stunden fährt, begebe ich mich zum Bahnhof. Die langgestreckte Bahnhofshalle innen ist rechts und links von dreiarmigen Leuchten flankiert, fünf auf jeder Langseite, dreißig Kugellampen aus Glas, von denen im schlecht geheizten, dämmrigen Raum insgesamt nur drei bis vier leuchten. Drei bis vier bedeutet, dass die vierte manchmal für einige Zeit leuchtet. Manchmal glimmen da und dort weitere Kugeln vereinzelt sekundenlang in blauem Licht auf. Ich weiß nicht, wie ich die Zeit überleben soll, bis mein Zug kommt. Und wie weit er mich von hier wegbringen kann. Eine Nacht später in meiner Wiener Wohnung wickle ich behutsam meine Kamera in ein paar frische Kleidungsstücke, lege ein Buch dazu und gehe nahezu ohne Gepäck zu Fuß vom 19. Bezirk über die verschneite Lände bis zum Morzinplatz. Von hier aus fährt angeblich zu jeder Stunde ein Bus zum Flughafen. „Die Zeit zwischen den Gedenkfeiern in Auschwitz und denen in Buchenwald verbringe ich in Ecuador“, hatte ich irgendwann dem Jungen erklärt, der mir die Tickets buchte. Der sagte daraufhin: „Also zwischen dem und dem das Paradies.“ — „Du willst sagen, zwischen Hölle und Hölle das Paradies“, sagte ich, denn in diesem Reisebüro sind alle per Du. 40 ZWISCHENWELT Ich teile das Haus mit Julio, einem Filmemacher, der in Mexiko geboren, in Nicaragua aufgewachsen, in Holland, Spanien und zuletzt in Kolumbien gelebt hat und seit drei Jahren hier ist. Und mit zwei Straßenhunden und einem Kater, die Julio „adoptiert“ hat, wie er sagt. Heute Nacht werden wir an die Küste fahren, um morgen gemeinsam mit zwei Kameras ein Musikvideo zu drehen, für ihn ein Job, um zu überleben, den er mit mir einfach teilt. Diese Arbeitstage, in denen ich das alles zu Papier bringe, riechen ansonsten widersprüchlicherweise wie Augusttage in den Ferien, in einem Schrebergartenhaus in Essling, mit etwas Gerümpel im Garten, unweit der „Kirschenallee“, wo ich als Kind einmal war. Hier steht ein Zitronenbaum im kleinen Garten mit etwas Gerümpel, dahinter der Ausblick auf ein weites Tal, dahinter hohe Berge. So viel zum Lokalkolorit. Schreiben im Exil, das jüngste Rollenspiel dieser Reise, in das ich geraten bin. Alexander Melach arbeitet als Schriftsteller und Filmemacher in (Dreh Ende 2013) ist in Postproduktion. Die Langzeitdokumentation „Trilogie des Vergessens“ (bisher 1995-99 und 2005) soll 2015 fertiggestellt sein. Finnischer Autor lehnt ungarischen Preis ab Da dies in österreichischen Medien unseres Wissens keinen Widerhall fand, melden wir es mit Verspätung dennoch: Der finnische Schriftsteller und Übersetzer Hannu Launonen schlug den mit 50.000 Euro dotierten Lyrik-Preis einer ungarischen Stiftung aus. Er könne die Ehrung aus Gewissensgründen nicht annehmen. Es sei ihm nicht möglich gewesen herauszufinden, ob der „Janus Pannonius-Preis“ der gleichnamigen Stiftung nach wie vor von der ungarischen Regierung gesponsert werde, erklärte das PENMitglied Launonen seine Entscheidung. Da er die Politik der ungarischen Regierung im Hinblick auf Menschenrechte und Meinungsfreiheit als nicht vereinbar mit der Charta des internationalen PEN ansche, sei ihm nichts anderes übriggeblieben als abzulehnen, hieß es am 7.10.2014 in einer Pressemitteilung der Schriftstellervereinigung PEN. Mehrmals hatte Hannu Launonen beim ungarischen PEN um Aufklärung gebeten, was es mit dem Preis auf sich habe, aber nie eine Antwort erhalten — obwohl der dortige Club den Preis 2012 ins Leben rief. Der deutsche PEN begrüßte die Ablehnung und dankte dem Finnen für seine deutliche Haltung. „Wir sind sehr froh darüber, dass Hannu Launonen hier deutlich Position bezogen hat und den Preis zum Anlass nimmt, erneut auf die bedenklichen Entwicklungen in Ungarn hinzuweisen.“ Der „Janus Pannonius-Preis“ erinnert an den bedeutendsten ungarischen Renaissance-Dichter. Der US-amerikanische Autor Lawrence Ferlinghetti hatte den Preis im ersten Jahr seiner Verleihung aus ähnlichen Gründen wie Launonen abgelehnt. Gerda Spiegler Kriegsende, achter Mai 1945, Jerusalem. Ich, 20 Jahre alt, ganz hübsch, etwas zu rundlich, verliebt, arm wie eine Kirchenmaus, schäbig gekleidet — schäbiger geht es nicht —, lebe davon, Privatstunden auf Englisch und Französisch zu geben. Die Sprachen habe ich vor einem Jahrhundert, so scheint es mir, in Wien, in meiner Heimatstadt, im Realgymnasium in der Joseph Gall-Gasse, Ecke Schüttelstraße gelernt. Und jetzt soll ich davon leben? Ich lebe von Brot, Margarine, Eierpulver, Ziegenkäse, Orangen und Liebe. Ja, von Liebe. Aber natürlich bin ich ganz keusch, unberührt, denn was sich für ein Mädchen aus gut bürgerlicher, jüdischer Familie ziemt, habe ich nicht vergessen. Mein Kavalier, mein „Zukünftiger“ ist ebenfalls schäbig angezogen, aber nicht ganz so schäbig wie ich. Sein Wiener Anzug ist sauber und gebügelt. Frisch aus der Putzerei kommend, sieht er ausgesprochen akzeptabel aus, sicht besser aus als der von mir getragene alte Seidenrock meiner Mutter, den sie im Oktober 1938 aufder Flucht in Prag gekauft hat, und der für mich verlängert, erweitert, verbreitert worden ist, denn meine Mutter ist nicht nur bildschön, sondern auch schlank. Nun gehen wir ins Konzert, mein Zukünftiger und ich... Das Konzert? Ja natürlich findet dieses im schäbigsten Kino der Heiligen Stadt statt, denn eine Konzerthalle hat sich Jerusalem im Jahre 1945 noch nicht leisten können. Eine solche wurde erst viele, viele Jahre später gebaut, nachdem viele Kriege in dieser und um diese herrliche Stadt geführt worden sind. So findet das Konzert im Edison Kino, Ecke Abessinier Straße, statt. Alles ist schäbig, schmutzig, holprig, und trotzdem ist kein Platz zu haben. „Victory Concert — All Brahms Evening“ ist auf der Litfaßsäule vor meiner Studentenbude gestanden. Ich studiere auf der Hebräischen Universität am Skopusberg, dem grünen Har Hatzofim, zusammen mit noch vielen anderen schäbig angezogenen jungen Menschen — die allesamt Sprösslinge europäischer Flüchtling sind. Untergebracht in einem winzigen Klassenzimmer, büffeln wir Englisch, Französisch und natürlich Hebräisch, das mir partout nicht in den Kopf und auf die Zunge gehen will - trotzdem ich seit sieben Jahren im Lande der Väter lebe. „Was wird gespielt, Hans?“, frage ich den großen, feschen Kavalier in seinem Anzug aus Wien. „Die Vierte Symphonie, das zweite Klavierkonzert und die HaydnVariationen.“ „Die Vierte, Hans? Die ist doch die schönste von den Vieren, nicht?“ Er lächelt mich an, nimmt meine Hand, legt sie an seine Wange, das ist angenehm und schön. „Warum schaust du so auf mich herunter und grinst?“ „Weil die Vierte is‘ die sanfteste. Du bist ein Weiblein. Mir gefällt die Dritte am besten. Die ist stramm, männlich!“ „Und so eine Freiheit, dem alten Haydn seine Melodie zu klauen und Variationen draus zu machen! Und das Cello-Solo im zweiten Klavierkonzert ist doch herrlich, nicht?“ „Du solltest wieder Klavierstunden nehmen. Sobald wir heiraten, wirst du aufmeinem Flügel Klavierstunden nehmen. Da kannst du nach Herzenslust herumklimpern.“ Hans hatte seinen Bechsteinflügel aus Wien retten können, mehr Möbelstücke hatten es nicht geschafft. Das Klavier steht neben den von der marokkanischen Hausbesorgerin ausgeborgten Möbeln, die er alle nicht ausstehen kann, steht in seiner Wohnung hinter der Jaffastrasse, im Armenviertel. Den Kopf darf man bei ihm nicht aus dem Fenster strecken, denn da stinkt es gewaltig vom Mahane Yehuda-Markt her, vom großen Naschmarkt Jerusalems. „Hinter seinem langen Bart war der Brahms geizig. Und ein Schwächling. Sonst hätt‘ er die Clara Schumann doch geheiratet. Aus Geiz blieb er eben alleine. In der Karlsgasse in Wien hat er gewohnt, in einem billigen Zimmer... Ich habe mich von ihm verabschiedet, denn seine Kompositionen schmecken mir trotz seinem Geiz.“ „Was hast du gesagt?“ „Ich habe mich von ihm verabschiedet, es muss gegen Ende 1938 gewesen sein, so sechs Wochen nach dem ‚Anschluss‘. Ich war am Wiener Zentralfriedhof mit meiner Mutter, um Bertuschka, meiner ungarischen Urgroßmutter, Adieu zu sagen. Ich erschien mit einem großen Strauß Rosen. Ich sparte mir die Hälfte für den Misanthropen Gustav und den gottbegnadeten Ludwig von auf. Der arme Wolterl, unser junger Mozart, hat doch kein eigenes Grab. Meine Mutter hat damals sehr geweint. Ich nicht. Ich tanzte aus dem Friedhof heraus, denn ich bildete mir ein, der alte Johann, der von der ‚Fledermaus‘, steht auf aus seiner Gruft und geigt einen Walzer, speziell für mich natürlich. Einen Abschiedswalzer sozusagen. Denn später, im Kinderheim und im Kibbuz in der Haifa-Bucht, haben wir doch nur Hora noch getanzt...“ Hans nimmt mir wieder die Hand, diesmal die andere und steckt sie in seine Rocktasche... „Und wer dirigiert?“ „Charles Münch“, sagt Hans, und wir schlendern durchs Gedränge und finden unsere Plätze in der fünften Reihe. Schr elegant. Hans hat ja bezahlt. „Charles Münch“, wiederhole ich ganz leise und falle auf meinen harten Holzsitz in dem armseligen, bummvollen Edison Kino mit seinen über tausend Sitzplätzen. „Mein Gott, der ist ja zum Verlieben schön, dieser Münch. Der graue Kopf, die schlanke Figur, der Frack sitzt ihm wie angegossen und sein Dirigieren ist diszipliniert fein, vollendet. Ich glaub‘, mit dem könnt‘ ich Verschiedenes ablegen. Was meinst du, wenn mich so ein Maestro Münch aufein Glas Wein ins ‚King David‘ einladen würd‘, möcht‘ ich sicher vergessen, dass es zwischen mir und dir nicht mehr als Küssen und Streicheln gibt.“ Und schon brennen meine dicken Backen bis ins Ohrläppchen. Mein Zukünftiger lacht. „Mit dem könnt‘ ich parlieren wie ein junges Mädchen aus ,‚Gutem Haus‘. Samt dem zu engen, alten Prager Seidenrock und der billigen Kibbuzhose...“ Ich seufze. „Sicher hat er eine Frau und fünf Kinder und pfeift auf mich.“ Hans nickt. Er weiß ja, dass ich manchmal kleine Anfälle von Wiener Phantasterei habe. Ich wusste damals noch nicht, ob diese Phantasterei Glück ist, denn die Schwere des Lebens war noch nicht an mich herangetreten. Wir lauschen mit Andacht und ich phantasiere schon wieder. Besonders beim Cello-Solo im Klavierkonzert... Hans und ich gehen da am Ölberg spazieren... Hand in Hand, eng umschlungen. Unter Zedern, Palmen und Olivenbäumen... Bis wir 1200 Meter in die Tiefe plumpsen, direkt ins Tote Meer. Patschnass sitzen wir dann am Meeresufer, in der grauen Steinwüste, unter dem grauen Himmel... Das Salz des Toten Meeres brennt uns auf der Haut... April 2015 41