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Redakteur der entwicklungspolitischen Monatsschrift „Südwind“ in Pension gegangen war, blieb ihm mehr Zeit, seine vielen Pläne in die Tat umzusetzen. Er war damit beschäftigt, seine Tagebücher zu sichten, in denen er — in einer Art Personalunion aus Goethe und Eckermann - seine Gedanken und Erlebnisse über Jahrzehnte ausführlich festgehalten hatte, machte sich an die Übersetzung eines Romans des Kolumbianers Gustavo Älvarez Gardeazäbal, schrieb an Hermann J. Hendrich Henriette Mandl 1928 — 2015 Etti, so wie sie immer genannt werden wollte, entstammte der Großfamilie der Reichs, die ursprünglich in Ostungarn ansässig war, ein Großonkel von Etti war der letzte Oberrabbiner in Baden; ihr Vater, Maximilian Reich, Sportjournalist, gehörte schon zu der großen Gruppe der assimilierten Juden in Wien, deren Bezug zum religiösen Judentum gering war. Am 1. April 1938 kam ihr Vater mit dem sogenannten Prominententransport nach Dachau, es gelang ihm aber unter bis heute ungeklärten Umständen freizukommen und nach England zu emigrieren. Dies erzählt Etti in ihrem Buch „Zweier Zeugen Mund“, in dem sie auch „Die Mörderschule“, den schon 1939 entstandenen Bericht ihres Vaters über die „Anschluss“-Tage und über die Zustände in Dachau und Buchenwald veröffentlichen konnte. Sie selbst konnte Wien zusammen mit ihrer älteren Schwester Gertraude mit einem Kindertransport im Jänner 1939 nach England verlassen. Sie fühlte sich auch immer mit der englischen Kultur und Sprache verbunden, ihr (britisches) Englisch war makellos. 1947 konnte die Familie nach Wien zurückkehren, sie studierte an der Universität Wien Anglistik und Kunstgeschichte, das Studium schloss sie 1951 mit dem Doktorat ab, begründete zusammen mit Studienkollegen eine Amateurtheatergruppe, das „International English Theatre“. Martin Esslins Schrift über „Das ‘Theater des Absurden“ (1961) hat sie sehr beeindruckt. 1963 wurde sie für lange Jahre „Dramaturgin“ und Mädchen für alles bei Stella Kadmon; diese Zeit hat sie in ihrem Buch „Cabaret und Courage — Stella Kadmon“ (1993) eindrucksvoll beschrieben. Freilich musste sie sich immer Brotberufe suchen, zuletzt bis zur Pensionierung im Wiener Tourismus, dies führte dann 1987 zu den Veröffentlichungen „Wiener Altstadt-Spaziergänge“ (zahlreiche Auflagen) und „Vienna Downtown Walking Tours“, ebenfalls 1987. Im Frühjahr 1962 konnte Ettian einem längeren Seminar über modernes Theater im Schloss Leopoldskron teilnehmen, besonders interessiert haben sie die Stücke von Edward Albee und Jack Gelber. Ich denke, dass dies auch zu der Einladung nach Lawrence geführt hat. Zusätzlich verhalfen ihr umfangreiche Kenntnisse des englischen modernen Theaters sowie der Iheaterpraxis zu Lehraufenthalten in den USA 1962/63 und 1969/70 und zu einer Vortragstournee 1967. Etti war immer eine Einzelkämpferin und hat selten mit anderen zusammengearbeitet, sie hatte ihre speziellen Qualitätsvorstellungen. Über Ungerechtigkeiten im sozialen Bereich konnte sie sich besonders erregen, wenn sie auch nie irgendwo organisiert war. Ihr schr weit gestreuter Freundes- und Bekanntenkreis hat zeit ihres Lebens von ihren umfassenden Kenntnissen der englischen und deutschen modernen Literatur profitieren können, wie auch 6 _ ZWISCHENWELT einem Buch über ein Heim für drogenabhängige Straßenkinder, das der katholische Ordensbruder Gabriel Mejia Montero in Medellin mit ungewöhnlichen Heilmethoden, hoher Erfolgsquote und dem unbändigen Glauben an die Kraft der Liebe leitet. Dieser Glaube hat auch Werner beseelt. Nicht zuletzt deshalb vermisse ich ihn so sehr. der Verfasser, der seit Ende der 1950er-Jahre eine enge Freundschaft mit ihr aufrechterhalten hat. Vor ein paar Jahren konnte sie an Stelle einer Autobiographie das berührende Buch „Schwindende Spuren. Biografische Skizzen“ veröffentlichen, in dem sie uns mit einer längst vergangenen Zeit bekannt macht und ihre weit gestreute Familie in den 1930erJahren schildert. Dieses Buch ist wohl ihr Abschiedsgeschenk an uns, die Freunde. Damit hat sie wohl auch ihren stark ausgeprägten Familiensinn - selbst kinderlos — für ihre erweiterte Familie und ihre engeren Freunde darstellen können. Wer sie und ihre Großzügigkeit, ihr aufmerksames Zuhören und ihre Teestunden in der Salesianergasse erlebt hat, wird ihr lange sein Andenken erhalten. Henriette Mandl ist am 16.6.2015 in Wien verstorben. Die sich ergänzenden Berichte von Max und Emilie Reich sind vermutlich die ersten, die von österreichischen Opfern des Nationalsozialismus verfaßt wurden. Und sie sind, den Blick der Frau und den des Mannes miteinander verschränkend, einzigartig. Henriette Mandl hat die verschollenen Manuskripte ihrer Eltern wiedergefunden. Und der Historiker Wolfgang Neugebauer hat dazu eine kleine Geschichte des ersten Österreichertransports nach Dachau verfaßt.