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Während die Peilsteiner wegen einer spontanen Reaktion, eigentlich einer Lappalie, ermordet wurden, gehörten jene Freistädter, die drei Tage später exekutiert wurden, der gut organisierten Widerstandsgruppe „Neues freies Österreich“ an. Die Freistädter hatten sich im Frühsommer des Jahres 1944 um den Krankenkassenleiter Ludwig Hermentin formiert, die Gruppe gilt unter Historikern als eine der bedeutendsten Widerstandsorganisationen in Oberösterreich. Ihre Besonderheit bestand darin, dass sie sich aus Angehörigen unterschiedlicher politischer Anschauungen ehemaligen Mitgliedern der Christlichsozialen Partei, der Vaterländischen Front und der Sozialdemokratischen Partei. Sie bot Personen, die durch den Nazi-Terror in Not geraten waren, Hilfe an, vor allem jenen drangsalierten Familien, von denen Männer nicht mehr zum Militärdienst zurückkehrten oder den Einberufungsbefehl ignorierten und untertauchten. Hermentin, Invalide durch seine Teilnahme am 1. Weltkrieg, legte eine verschlüsselte Spendenliste an, um später den Spendern Rechenschaft geben zu können. Für die Zeit nach der Schreckensherrschaft wurde an einer Liste mit Namen von Persönlichkeiten gearbeitet, die nach der Befreiung bereit wären, politische Funktionen zu übernehmen. Parallel dazu erfasste man in einem Verzeichnis die Namen der führenden Nationalsozialisten der Stadt, um diese nach der Wiedergeburt Österreichs von politischer Einflussnahme fernzuhalten. Aus den Dokumenten, die der Lehrling Hermentins, Helmut Heidelberger, nach der Verhaftung seines Chefs versteckt hatte, geht hervor, dass die Gruppe auch Luftlandeoperationen der Alliierten unterstützen wollte. Die Gruppe wurde über den Linzer Kontaktmann Willibald Thallinger, in dessen Wohnung bei einer Hausdurchsuchung „belastendes Material“ entdeckt wurde, aufgedeckt. In Haft wurde Thallinger gefoltert, danach konnte sich der Gestapo-Beamte Johann Haller mit Thallingers Hilfe in die Gruppe einschleichen. Daraufhin kam es am 9. und 10. Oktober zu einer Verhaftungswelle durch die Gestapo, die in der Stadt Angst und Terror verbreitete. Weitere Verhaftungen erfolgten bis in den November hinein. Schließlich waren 52 Personen, 39 Männer und 13 Frauen inhaftiert. In der Haft wurden durch Folter Geständnisse erpresst, und gegen 36 Menschen sollten Schauprozesse wegen Hochverrats geführt werden, einer in Wien und einer in Linz. Letzterer fand als sogenannter „Freistädter Prozess“ am 26. und 27. Februar 1945 am Volksgerichtshof Berlin statt. 16 Personen, unter ihnen 3 Frauen und 2 Jugendliche, wurden des Hochverrats angeklagt. Acht Angeklagte wurden zum Tode, die anderen zu mehrjährigen Kerkerstrafen verurteilt. Die Erschießungen von Hermentin, Preinfalk, Thallinger, Angerer, Haunschmidt, Baier, Schöfer und Kotzmann am 1. Mai 1945 erfolgten wahrscheinlich auf persönliches Betreiben des Gauleiters Eigruber, der die 12 Z2WISCHENWELT zuständigen Justizbeamten dermaßen unter Druck setzte, dass diese um ihr eigenes Leben fürchten mussten. Exekutiert wurden auch Karl Hehenberger, Josef Grillmayer und Cäcilie Zinner, die der Linzer kommunistischen Widerstandsgruppe Telfner nahestanden, sowie der Steyrer Arbeiter Friedrich Derflinger und Theresia Erhard, die wegen Pliinderung zum Tode verurteilt worden war. Nicht weniger grausam und vor allem berechnend in Hinblick auf die Zeit danach waren weitere Morde in diesen Tagen. Am Abend des 24. April 1945 wurden vier Freistädter und ein Pole aus ihren Wohnungen geholt, weil sie im Verdacht standen, Sozialisten oder Kommunisten zu sein, ohne Gerichtsverfahren an der Jaunitz erschossen und anschließend verscharrt. Am 28. April ließ Eigruber über Funk nach Mauthausen den Mordbefehl für die im September eingelieferten Linzer und Welser Kommunisten übermitteln, da er diese als „aufbauwillige Kräfte“ für die Alliierten ansah und dies verhindern wollte; nach einem gescheiterten Ausbruchsversuch wurden 42 von den 43 zur Tötung bestimmten Häftlingen Ende April vergast. Zu bestimmten Anlässen rituell zu verkünden, nicht vergessen zu wollen, ist zu wenig. Es gilt jeden Tag die Schlüsse zu ziehen aus den Vorgaben der Geschichte. Demokratie ist kein Etikett, das sich ein Staat, eine Republik verpasst, mit der Gewähr, dass das öffentliche, d.h. politische Leben ein für allemal, gleichsam automatisch, auf Gerechtigkeit und Gleichheit beruhend ablaufen möge. Demokratie muss täglich gelebt, ja wieder errungen werden. Demokratie als res publica, als „öffentliche Sache“, als Regelung des Gemeinwesens, sollte ein permanenter Prozess sein, der logischerweise nie abgeschlossen sein kann, ein Prozess des Verhandelns von Interessen und Bedürfnissen zum Zwecke einer gerechten Gesetzgebung, den möglichst alle mündigen Bürgerinnen und Bürger — je mehr, desto besser — vorantreiben müssten. Tot ist einer, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert. Es gilt die Spuren, die ausgemerzt werden sollten, zu sichern, den Geist jener, die gegen den Strom geschwommen sind, in aller Öffentlichkeit zu würdigen und entsprechend der aktuellen politischen Verhältnisse neu zu beleben.