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ihre Identität auszulöschen und sie vergessen zu machen. Fünf Tote für alle Toten? Wer findet sich aber im Universum der Gewalt zurecht, alles und nichts. Fünf’Iote, das können wir wahrnehmen, 61 ist schon an der Grenze. Mit einem guten Gedächtnistraining würde es uns gelingen einige Namen von den 61 zu behalten. Gedächtnistraining stand aber lange Zeit nicht auf dem Lehrplan. Was sind schon Namen? Alles! Oft das einzige. Oder? Diese Figuren stehen für viele, sind viele. Im Leben, bevor sie hier im Dead End gelandet sind, haben sie alle Rollen gespielt, sie waren Modelle für Kunstklassen, alle Bewegungen des menschlichen Körpers sind ihnen vertraut mit den 143 Gelenken. Im realen Leben waren sie aus Holz. Im realen Leben waren die Namen, mit denen ich versucht habe sie vertraut zu machen: Eisenbahner, Bäcker, Hilfsarbeiter, Dreher oder Werkzeugfräser. Oder sie waren bloß Namen. Im realen Leben haben diese Figuren — die Modelle für Kunstklassen — Schrammen abbekommen, sie waren keineswegs unverwüstlich. Eine Hacke, ein Messer brauchte bei ihnen länger als im menschlichen Fleisch, um Spuren zu hinterlassen. Jetzt sind sie für die Ewigkeit namenlos bewahrt. Für immer. So hätte die Rede lauten können. Oder auch ganz anders. Hier sind sie gut aufgehoben, hier wird ihnen nichts mehr passieren, der Regen macht ihnen nichts, die Blicke werden wie ein Streicheln sein, eine Liebkosung für das Metall. Wer hierherkommt, der will sehen, lernen vielleicht erfassen. Hier ist nicht das Paradies, aber kundiges Erstaunen und Getuschel, vielleicht auch Lachen. Das Leben ist hier und ein bisschen Tod gehört zum Leben. Hier können wir ohne Probleme auch einem Dead End entkommen. Hier wird den Figuren jene Achtung entgegengebracht, die ihnen als Lebende verwehrt blieb, als sie nicht nur Namen waren, sondern auch eine Geschichte hatten. Hier können wir üben für die Zeit nach dem Dead End. Hierher muss aber man/frau kommen, um dies zu erfahren, zu probieren. Hier passiert nichts zufällig wie im Leben, hier ist der Ort für Kunst. Ist dies daher der richtige Platz? Es ist der richtige Platz, weil es der falsche ist. Hier werden keine Menschen ermordet, hier sind sie bereits tot, in Würde gestorben, unversehrt, keine Schädeldecken zerborsten, keine Wunden von Schussverletzungen, kein aufgerissener Mund, weil sie noch lebend begraben wurden. Hier können wir nicht gutmachen, was an anderen Orten passiert ist. Sollten diese fünf Figuren nicht an einem anderen Platz liegen? Sollten Sie nicht dort liegen, wo es geschah, wo es zum Beispiel geschah? Aber dann würden diese Figuren ja nur einen Platz markieren und hier markieren sie alle Plätze, alle Todesplätze. Aber können wir uns alle Plätze überhaupt vorstellen? Ein Platz ist wie der andere. Wenn wir einen Platz kennen, dann kennen wir alle. Lernen wir einen Platz kennen, zum Beispiel Hadersdorf. Bevor die Figuren hierher übersiedelt sind — in dieses Dead End -, lagen sie im Hof des Museums von Daniel Spoerri, nicht präsentiert, sie lagen unter einer Weide, fast wie vergessen, einfach so — beiläufig eben. Und als ich sie so vergessen daliegen sah, habe ich mir vorgestellt und gewiinscht, dass diese Figuren einfach in der Nacht aufstehen und zu gehen beginnen, nicht weit sollten sie gehen. Sie können gehen, sie sind beweglich, nicht weit wären sie unterwegs gewesen, vielleicht hätten die Gelenke sonderbare Geräusche gemacht, sie wären nur bis zum Hauptplatz von Hadersdorf gelangt und dann sollten sie erschöpft ins Gras sinken. Es würde aussehen, als ob Tote plötzlich ausgeapert 14 ZWISCHENWELT worden wären, wie ein Ötzi aus dem Eis, wie Tote dem Vergessen entrissen, dem schlechten Gewissen zum Trotz oder wegen des schlechten Gewissens oder deswegen, weil es zu wenig Gewissen und zu wenig Empathie gibt. Und was wäre passiert? Hätte sich jemand getraut, diese Figuren zu entfernen? Diese Figuren sind aber schwerer als Menschen. Wenn es wirkliche Menschen gewesen wären, hätten sie ganz leicht über die Schulter geschmissen werden können. Die Häftlingsmenschen des Jahres 1945 hatten 40 oder 50 Kilo, auch die aus dem Zuchthaus Stein. Vielleicht weil sie zu schwer wären, hätten diese fünf Figuren mitten auf dem Hauptplatz ihren Frieden gefunden. Das wäre aber der falsche Platz, weil es der richtige ist. So hätte die Rede auch beginnen können. Oder am Beginn hätte auch ein kulturhistorischer Zugang stehen können. Frankreich ist das Land der Brüderlichkeit und der Gleichheit. Daniel Spoerri hat eine Zeit seines Lebens dort verbracht. Diese großen Ideale wirken auch in den Alltag. Es ist daher kein Zufall, dass der Kreisverkehr in Frankreich erfunden wurde — das sind die Ideale der französischen Revolution im Straßenverkehr umgesetzt. Nirgends gibt es so viele Kreisverkehre wie in Frankreich. Es wird nicht der Kreisverkehr gewesen sein, warum sich Daniel Spoerri in Hadersdorf niedergelassen hat, aber eines ist gewiss: Bei diesem Hadersdorf handelt es sich um den schönsten Kreisverkehr Österreichs, wenn nicht sogar Mitteleuropas. Ein geschlossener Kreisverkehr, ein bewohnter Kreisverkehr, ein geschichtlicher Kreisverkehr mit einer wunderbaren Bausubstanz. Im Kreisverkehr zum Dead End — das gibt es nur in Hadersdorf. Das gab es nur dort: Diesen Kreisverkehr haben die 61 Häftlinge aus Stein, entlassen am 7. April 1945, überqueren müssen, bevor sie zu ihrem Dead End gelangt sind, in ihre Sackgasse, die zwei, drei Gruben waren, in die die SS sie hineingeschossen hat. Und um die Gesundheit der Bevölkerung nicht zu gefährden, wurde Kalk auf die Leichen gestreut. Wenn es sich bei dieser Marktgemeinde um ein Kunstwerk handeln würde, dann könnte man heute durch einen Kreisverkehr zu einem Dead End gelangen. Doch Kunst hat im Alltag nichts verloren, dafür gibt es einen besseren Platz. Oder? Für welche Variante des Beginnens wir uns auch entscheiden, eines ist klar. Namenlos dürfen nur die fünf Figuren bleiben, müssen sie bleiben, damit sie an alle Geschichten erinnern können. Aber Namen müssen alle Toten bekommen, auch die von Hadersdorf. Und wenn ihnen diese letzte Identität nicht zugestanden wird, so wird es einer widerständigen Zivilgesellschaft bedürfen, die dies realisiert, doch dies ist eine andere Geschichte und an der können wir noch mitschreiben. Ich möchte hier nur mehr eines sagen: Danke, Daniel Spoerri. Robert Streibel, Historiker, Direktor der Volkshochschule Hietzing, Mitarbeiter von erinnern.at und Buchautor Zuletzt erschienen „Krems 1938-1945. Eine Geschichte von Anpassung, Verrat und Widerstand“ (Bibliothek der Provinz 2014) und der Roman „April in Stein“ (Residenz Verlag 2015). - Am 8. Juni 2015 wurde Streibel der Leon Zelman-Preis für Dialog und Verständigung verliehen. — Über das Massaker an 61 aus der Strafanstalt Stein entlassenen Häftlingen am 6. und 7. April im idyllischen Hadersdorf am Kamp informiert die Homepage www.gedenkstaette-hadersdorf.at