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VERPASSTE BEFREIUNG? Berthold Viertel Austria Rediviva Die Erlösung Österreichs von dem Fluch, Ostmark des Dritten Reiches zu sein, ist an sich eine große Sache. Ferner: welch eine Möglichkeit, hier einen neuen Anfang zu setzen! Diese Chance verdankt Österreich den Beschlüssen der Moskauer Konferenz. Ihre Verwirklichung wird das Land den Kriegshandlungen der Vereinten Nationen zu verdanken haben, also Opfern, die von anderen Völkern gebracht werden. Aber nicht nur ihnen: es häufen sich die Nachrichten, daß auch im Innern Österreichs heroisch und opferwillig gegen die Gewaltherrschaft angekampft wird. Es gibt nationale Helden und Märtyrer in Österreich. Ebenso zweifle ich nicht daran, daß dort Leute zu finden sind, die den Plan einer progressiven Demokratie im Herzen tragen und ihn zur Ausführung zu bringen tatkräftig versuchen werden. Diese Menschenart bildet das Kernstück der österreichischen Hoffnung und eine Gewähr für ihre Erfüllung. Sie werden, so hoffen wir, den neuen Ton angeben und sich für die Lebensbedingungen Österreichs in einem befreiten und befriedeten Europa einsetzen, dessen Zukunft von der vereinten Produktionskraft und dem gesicherten Friedenswillen aller seiner Völker abhängt. Es ist nur zu verständlich, daß die einzelnen Nationen sich, im Gegensatz zur Raubkriegs-Iheorie-und -Praxis des Faschismus, als Friedens-und Kulturmächte definieren und etablieren wollen. Es fehlt Österreich gewiß nicht an älteren und neueren Voraussetzungen dazu. Das sollte nicht zu dem Versuch verleiten, das Gebäude von der Kuppel her zu beginnen, paradox ausgedrückt, als ob man mit dem Grünspan alter Dächer neue Häuser bauen könnte, sozusagen aus Patina. Konkreter gesagt, nicht von außen, durch die Befreier, kann dem neuen Österreich seine ihm entsprechende Kultur gebracht werden; sie kann auch nicht von Emigranten wiederbezogen werden wie eine Wohnung, welche sich die Nazis widerrechtlich angeeignet haben. Es geht nicht um die Fortführung der Salzburger Festspiele und um den wieder eingerenkten Fremdenverkehr, den nun wieder unbelästigten Sommeraufenthalt prominenter oder doch mindestens zahlungskräftiger Ausländer. Auch nicht darin, daß Wien zum Sitz des Völkerbundes wird, sehe ich die entscheidende Glückschance Österreichs: sondern in seiner Erneuerung vom Fundament, vom Selbstgefühl des Volkes her; in seiner wirtschaftlichen Konsolidierung in einem konsolidierten Europa; und von allem Anfang an in der kritischen Wachsamkeit gegenüber den Einflüssen seiner allzu historischen Vergangenheit. Österreich wird die Vorstufe eines demokratischen Europa sein — oder eine Fehlgeburt. Wir dürfen nicht vergessen, was zu Hitler geführt hat und was unter Hitler geschah. Ich verstehe schr gut das Heimweh, das etwa einem Theaterlyriker die Vergangenheit nicht nur in verklärten, sondern auch in veränderten Farben erscheinen läßt. Im Vergleich mit dem Theater, das Hitler in Wien aufgeführt hat, ist freilich die Dramatik Schnitzlers ein Labsal an Liebenswürdigkeit und Menschlichkeit gewesen; aber ich würde sie nicht gleich als revolutionär bezeichnen. Um die österreichische Tonart zu gebrauchen: ja, wie schaut denn nachher die Revolution aus? Jene Tonart, die der zweifellos kulturerfahrene Ernst Lothar in seinem 16 _ZWISCHENWELT programmatischen Aufsatz in der vorigen Nummer dieses Blattes, für ein separates und zu separierendes Deutsch hält. Wir wollen darüber nicht richten, auf die Werke kommt es an. Aber wenn als Kronzeugen der Idylliker Adalbert Stifter und seine Flucht in die Natur oder der „Arme Spielmann“ Grillparzers und sein demütiges Versagen vor auch nur den geringsten Anforderungen der Realität angeführt werden, dann fühlen wir uns in die fragwürdigste politische Vergangenheit zurückversetzt. Die Werte Grillparzers werden nicht bestritten, wenn er als ein durch das damalige Klima Österreichs gemilderter, aber auch tief gehemmter Nachfahr der deutschen Klassik und Romantik erkannt wird. Gewiß muß nicht jeder Dichter hochdeutsch schreiben, aber das störrische Versinken in die Mundart würde das neue Österreich unheilbar provinziell machen. Dazu wird es wohl nicht kommen, und das erregt nicht meine Sorge. Was aber nicht unbestritten — oder mindestens nicht unergänzt bleiben soll, ist ein Satz wie dieser: „Aus Widerstand, revolutionärem Überdruß und Selbsterkenntnis werden bei trägen, vergeßlichen Nationen manchmal (siehe Grillparzer) große Leistungen. An den dreien kann es Österreich für Jahrhunderte nicht mehr fehlen.“ Es ist zu hoffen, daß das neu begründete Österreich jedenfalls nicht eine träge, vergeßliche Nation beherbergen wird. Das kann Ernst Lothar auch nicht gemeint haben, schon gar nicht, wenn er in Jahrhunderten rechnet. Auf die Trägheit und Vergeßlichkeit der Österreicher ist nach dem, was ihnen passiert ist, kein Verlaß mehr - sollte man wenigstens meinen. Auch daß es für Jahrhunderte beim revolutionären Überdruß eines Grillparzer bleibt, kann nicht etwas Erstrebenswertes sein. Dagegen Selbsterkenntnis: mit der hätte längst begonnen werden sollen! Was in diesem Zusammenhang von Hofmannsthal (aus einem privaten Gespräch) zitiert wird, ist zwar mundartlich, aber höchst bedenklich: „Unsere österreichische Zivilisation läßt enorm zu wünschen übrig — unsere Kultur dagegen gar nix.“ Leider muß festgestellt werden, daß diese optimistische Meinung seither durch an Wehrlosen begangene Schandtaten bitterlich widerlegt worden ist. Die Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation, ein Schaustück neudeutscher Professorenphilosophie, tritt allzu gern als ein reaktionäres Symptom auf; man hüte sich vor ihr! Die Barockidylle von gestern, schon zu ihrer Zeit ein Anachronismus, wird sich nicht wieder herstellen lassen. Die fehlenden Autostraßen wird Hitler inzwischen gebaut, den Verkehr wird er geregelt haben: obwohl selbst ein Österreicher, hat er in diesen Dingen bestimmt keine Schlamperei geduldet. Bei der Technik fragt es sich, wer sich ihrer bedient und zu welchem Lebenszwecke. Sie kann nicht nur den totalen Krieg ausrüsten, sondern auch einen aufbauenden Frieden. Als Instrument der massenmörderischen Macht ausgebildet, wird sie, einmal zum Werkzeug der Völker geworden, ihre segensreiche Unentbehrlichkeit beweisen können. Das, was Goethe den „passiven Kulturbereich“ genannt hat, genügt nicht, um Kultur, oder Zivilisation, zu sichern und dauerhaft, ja überhaupt wirksam zu machen. Die Weisen Haydns, Mozarts, Schuberts haben dazu in Österreich ebenso wenig ausgereicht wie