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in Deutschland der „Faust“, der bekanntlich im Tornister mitge¬
tragen wird. Und die Vorzüge der Landschaft bieten, im Verlauf
der gesellschaftlichen Entwicklung, erst recht keine Garantie. Die
Landschaft ist schon brav, wenn's nur auch die Leut alle wären!
Wir haben inzwischen auch das gelernt: die schönsten Sonnenun¬
tergänge beleuchten immer wieder die traurigsten menschlichen
Verhältnisse, und das beileibe nicht nur in Deutschland und in
Österreich.

Nein, Österreich hat bessere Gewähr zu bieten als das Gansehaufl
und sogar die Kapuzinergruft. Sie besteht in seinen kritischen und
revolutionären Geistern, von denen es eine ansehnliche Reihe
besitzt - Österreicher, auch wenn sie ein dialektfreies Deutsch
geschrieben haben. In der österreichischen Arbeiterbewegung,
die ihren Geist bewies, als sie sich im Februar 1934, wenn auch
vergeblich, gegen den Bruch der demokratischen Verfassung zur
Wehr setzte. In der bürgerlichen Erhebung von 1848. In großen
wissenschaftlichen Leistungen. In den Wohlfahrtseinrichtungen
der Republik, die für die ganze Welt vorbildlich wurden. Gewiß
auch im österreichischen Natur-und Kunstsinn. Nur bedingt in
der Liebenswürdigkeit eines schwer geprüften Menschenschlages,
der von einer schwierigen historischen Entwicklung das Ertragen
gelernt hat, und leider auch eine Frömmigkeit, die oft nur das
Widerspiel der Unterdrückung war. Daraus die Folgerung zu zie¬
hen, daß „der österreichische Kulturbegriff dem Andachtsbegriff
nahe ist“ (im Gegensatz zum deutschen, der dem Machtbegriff
nahe sei), wäre nur dann gestattet, wenn die Andacht sich von
der Ohnmacht erholt hat, ohne auf der anderen Seite in klerikale
Machtpolitik umzuschlagen.

Und die Musik, die vorweggenommene Verklärung? Ihre Ge¬
fahr besteht darin, daß sie eine Harmonie erreicht, hinter der die
Lebensverhältnisse allzu weit zurückbleiben. Als Ohrenschmaus
gehört sie zu den kulinarischen Genüssen, als großgeartetes Den¬
ken in Themen hat sie es im Capua der Geister schwer genug
gehabt. Mozart in einem Massengrab beigesetzt. Schubert ver¬
armt, Beethoven verkannt und vereinsamt, Hugo Wolf bis zum
Wahnsinn gereizt und erbittert, Bruckner von der Kritik bestraft
und gedemütigt, Gustav Mahler durch Hofintrigen hinausgeckelt,
Schönberg ausgezischt und niedergejohlt: Kapitel auf Kapitel
beschreibt die Tragödie des schöpferischen Menschen, deren
Schauplatz freilich nicht auf Wien beschränkt ist.

Wir können nur an eine Zukunft glauben, die von den Fehlern
der Vergangenheit erwas gelernt hat. Diese zu vertuschen wäre ein
nachträgliches Unrecht, begangen an den Besten. Auch sie waren
Kämpfer, bevor die Menschen an dem, was sie erkämpft hatten,
zum Genuß kommen konnten. Der zündende Funke ihrer Geni¬
alität lebt nicht in den ästhetischen Kennern weiter, sondern eben
im lebendigen Widerstand, der im neuen Österreich - so hoffen
wir — den Boden finden wird, auf dem er sich in die Arbeit des
Friedens, und schließlich auch wieder in Kultur, umsetzen kann.

Dies ist meine persönliche, für niemand sonst verbindliche
Reaktion auf Kulturphantasien, deren Wohlmeinung ich nicht
bestreiten will. Es sei festgestellt, daß in dem Aufsatz Ernst Lothars
auch eine Erbarmung mit der durch den Nationalsozialismus
geschändeten außer-österreichischen deutschen Kultur zum Aus¬
druck kam; was immerhin eine innerste Verbundenheit der beiden

Sphären, trotz allem Grenzen-Ziehen, nicht verleugnen kann. Es
erfolgte eine freundliche Einladung an ein paar gute Europäer
deutscher Nation, in Wien Zuflucht zu suchen — wohl bis, wie
ich es mir ergänze, ein demokratisches Deutschland ihnen wieder
einen gesicherten Aufenthalt bietet. Ich halte es, obwohl selbst
ein Österreicher, vor allem mit jenen Deutschen, die entschlossen
sind, an der Gründung einer solchen Demokratie tätig teilzuha¬
ben, und zwar an Ort und Stelle. Auch für sie mag es praktisch
notwendig werden, den Weg ihrer Heimkehr über Österreich zu
nehmen; und ich hoffe, auch sie werden willkommen sein. Ferner
wurde einigen auserwählten Meistem der deutschen Sprache,
die bereits endgültig aus dieser blutbefleckten Welt emigrierten,
wie Goethe, Kleist, Claudius, Mörike und den soeben in Ame¬
rika neuentdeckten Brüdern Grimm eine Einreisebewilligung
angeboten. Dieser sorgfältig beschränkte Versuch, das deutsche
Kulturerbe zu retten, gipfelte in dem „Schlagwort“: „Goethes
Erbe nach Wien“, was für meine Ohren nach einem preußischen
Kommando klingt. Wenn es nach diesem Plane geht, würden
die erlauchten Gäste in Wien eine dort inzwischen gegründete
„Deutsche Kulturakademie“ vorfinden. Das scheint mir zu sehr
in Gehrock und mit Glacéhandschuhen gedacht zu sein. Ganz
abgesehen von der Zuständigkeitsfrage: es müßte wohl einige
robuste Arbeit mit aufgekrempelten Hemdärmeln und mit nicht
zur Danksagung gefalteten Händen vorhergegangen sein, einiges
Reinemachen und Neu-Bauen. Wenn dieses im Geiste von Fausts
letztem Monolog geschieht, mit dessen Worten der Erblindete
zum Seher wird, kann es auch den argsten Zweiflern nur recht
sein. „Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich
Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. ... Solch ein
Gewimmel möcht’ ich sehn. Auf freiem Grund mit freiem Volke
stehn. Zum Augenblicke dürft ich sagen: Verweile doch, du bist
so schön!“ In diesen Sätzen allein ist Goethes Erbe so groß, daß
wohl auch für Berlin noch etwas übrig bleiben würde. Der Antritt
der Erbschaft kann freilich nicht kommandiert werden: „Was
du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen!“

Autria Rediviva — lateinisch in etwa: das dem Leben wiedergegebene
Österreich — erschien im Jänner 1945 in der Austro American Tri¬
bune und war die Antwort auf Ernst Lothars im Dezember 1944
in derselben Zeitschrift erschiener Beitrag Zum Thema Österreich,
wo man u.a. lesen konnte:

Auf den Trümmern des Nationalsozialismus [...] wird eine neue
Kultur stehen. Sie wird deutsch, mit österreichischer Färbung,
sprechen. Ihre Hauptstadt wird Wien sein, das, aus Ruinen, sich
phönixhaft erheben wird, weil es [...] als notwendiger Ausdruck
der Natur, für die Ewigkeit [gegründet wurde].

Viertels Text ist nach der Befreiung 1989 im längst vergriffenen
Band 1 (Die Überwindung des Übermenschen. Exilschriften)
der von Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser und Peter Roessler
herausgegebenen dreibändigen (vier waren geplant) Berthold Vier¬
tel-Studienausgabe erschienen. In Dramaturgie der Demokratie.
Theaterkonzeptionen des österreichischen Exils, ebenfalls von
Konstantin Kaiser und Peter Roessler herausgegeben, wurde neben
Viertels Antwort auch Ernst Lothars Text abgedruckt.

September 2015 17