OCR
„Heimat“, bei der ihn ein Stab von amerikanischen Assistenten und Studenten begleitet. Doch bleiben Mauthners Gefühle bei seiner Rückkehr ebenso zwiespältig wie die des Remigranten Kortner, wie in einer kurzen Szene während der Überfahrt deutlich wird, in der Mauthner, an der Schiffsreling stehend, den ersten Vers von Heines Wintermärchen zitiert (Abb. 02). Auch Mauthners Erlebnisse bei seiner Rückkehr beruhen auf persönlichen Erfahrungen Kortners. So gerät auch Mauthner in seiner ersten Station Berlin in Konflikt mit den amerikanischen Militärbehörden, den Kortner in einer satirischen Sequenz darstellt, in der Mauthner mit seinem Anliegen von Oflice zu Oflice geschickt wird, bis er schließlich erschöpft aufgibt. Und genau wie Kortner selbst erlebt auch Mauthner, dass niemand in Deutschland Nazi gewesen war und die Deutschen vor allem sich selbst als Opfer sahen. In einer Szene in einem Berliner Postamt beschweren sich die Leute über die Beamten, die Besatzungstruppen „Und die Radfahrer“ wirft ein „Berliner“ ironisch ein. Als ein Beamter erwidert:Irgendeinen werden sie schon zum Sündenbock machen...“ kommentiert Mauthner: „Nur nicht den Schuldigen“ — und dabei schaut er auf ein Rechteck an der Wand, wo früher offenbar ein HitlerBild hing, das kurz „schattenhaft“ eingeblendet wird (Abb. 03). Den Zwiespalt von „zum Teil noch unbeseitigtem Antisemitismus“ und einem neuen Denken und Handeln, das humanistischen Idealen verpflichtet ist, stellt Kortner in seinem Drehbuch in öffentlichen und privaten Konflikten dar, wobei er sich neben eigenen Erfahrungen auch auf aktenmäßig dokumentierte Vorkommnisse stützte”, die er mit aus der Exilliteratur bekannten Motiven verbunden hat: Da ist die Figur des Opportunisten, Reaktionärs und Intriganten Professor Fechner (Abb. 04), der zwar behauptet, zur inneren Emigration und zum Widerstand gehört zu haben, in Wahrheit aber gegen Mauthner intrigiert. Weil er Mauthner verübelt, dass er ihm angeblich die Stelle weggenommen hat, hetzt er die Studenten mit antisemitischen Parolen gegen Mauthner auf. Auch ein privater Konflikt belastet Mauthner, er sucht nach seiner früheren Frau Lina, (Abb. 05) die sich von ihm hat scheiden lassen und in Deutschland geblieben ist und nach seinem inzwischen erwachsenen Sohn Walter (Abb. 6), der einen anderen Namen trägt und nicht weiß, dass Mauthner sein Vater ist. Denn um ihren Sohn vor Verfolgung zu schützen, hat Mauthners Frau im „3. Reich“ behauptet, dass sie Mauthner mit einem Arier betrogen habe - eine Notlüge, zu der zahlreiche mit einem jüdischen Deutschen verheiratete Frauen tatsächlich ihre Zuflucht genommen hatten. ’‘ Abb. 4: Professor Fechner (Paul Hoffmann) Mauthner ist von der Überzeugung durchdrungen, dass Tugend lehrbar sei, dies ist seine „große Hoffnung“ für die junge deutsche Generation: „Denn wäre es nicht trostlos für Sie, wenn jene andere Ihese jene von der Unwandelbarkeit des Menschen zu Recht bestiinde?“” fragt er rhetorisch in seiner Antrittsrede an der Universität Göttingen. Er kehrt zurück, um seinen „geraubten Anspruch“ auf die „Sprachheimat“°®, aus der er vertrieben wurde, geltend zu machen und um Aufklärung und Vernunft gegen Aberglauben und Irrationalismus zu setzen. Dabei geht es weder Kortner noch seinem alter ego um Abrechnung, beide schauen vielmehr konsequent nach vorn, wie vor allem Mauthners Appell an die studentische Jugend zeigt. Diese Schlüsselszene des Films ist in Wahrheit „Fritz Kortners Ruf an Deutschland“, und sein „Ruf nach Gefährten“ für den demokratischen Neubeginn in Deutschland, den Kortner herbeiscehnte und an den er glaubte. Mauthners Appell ist im Drehbuch in drei Versionen überliefert: einer ersten deutschen Version‘, der zweiten, überarbeiteten deutschen Version‘' und einer englischen Fassung”, die eine Übersetzung der zweiten deutschen Version ist. Die zweite deutsche Fassung der programmatischen Rede, die auch an das Filmpublikum hohe Ansprüche stellt, ist hier erstmals vollständig wiedergegeben, denn obwohl die deutschen Zuschauer eindeutig die Adressaten des Appells sind, ist die Rede in den mir bekannten Filmkopien nur in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln überliefert. Dies erscheint doppelt merkwürdig, weil in den Großund Nahaufnahmen Kortners deutlich zu sehen ist, dass er bei der Filmaufnahme Deutsch spricht. Eine genaue Analyse der Aufnahmen zeigt, dass die überarbeitete zweite deutsche Fassung gedreht worden ist. Auch aus Presseberichten und zeitgenössischen Kritiken geht hervor, dass die Rede damals in deutscher Sprache zu sehen und zu hören war“, anscheinend haben sich aber nur Kopien der für die USA bestimmten Fassung erhalten, für die Kortner die Rede selbst synchronisiert hat.** Die eigentliche Antrittsvorlesung Mauthners wird im Film nicht gezeigt. Die etwa in der Mitte des Films platzierte sechs Minuten lange Sequenz beginnt vielmehr erst am Schluss der Vorlesung: Lassen Sie mich, ehe ich schließe, einen persönlichen Appell an Sie richten. Am 12. Januar 1933, hier an dieser Stelle, sprach ich über Platos Konzept von der Erlernbarkeit der Tugend. Ich erhob meine Stimme im Bewusstsein der heraufkommenden Untugend und der Verschwörung gegen den Intellekt überhaupt. Der Schlag wurde geführt. Platos Konzept schien widerlegt. Die Niederlage, die Vernunft und Denken erlitten, erwies sich als die schwerste, die September 2015 25