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und Handeln zurückzufinden, damit der „trübe Morgen [...] zum Tag werden“ kann. Die Rede wird im Film vollständig in englischer Sprache gezeigt, dabei wird Mauthner häufig in Untersicht aus verschiedenen Blickwinkeln fotografiert, außerdem sieht man die Zuhörer in Total- und Halbtotalaufnahmen, abwechselnd die kleine Schar seiner Anhänger und die deutlich größere Gruppe der Gegner, die jedoch entgegen Fechners Anweisungen die Rede nicht laut stören: Unmittelbar nach Schluss der Rede Stille. Dann erheben sich die Mehrzahl der Studenten und verlassen stumm ihre Sitze, um den Ausgängen zuzugehen. Eine kleine Minderheit gibt ihrer Begeisterung lebhaften Ausdruck durch das traditionelle Füssescharren, auch Applaus und vereinzelt „Hoch“ und „Bravo-Rufe“.” Auch Rektor und Dekan beglückwünschen Mauthner und äußern ihr Bedauern über den Widerstand gegen ihn, aber Mauthners Appell hat auch bei den von Fechner aufgehetzten Studenten etwas bewirkt, sie haben entgegen der getroffenen Verabredung nicht laut protestiert, sondern sind nur stumm geblieben, auch bei Mauthners Sohn Walter, der Soldat war und jetzt Student ist. Von Mauthners Rede ist er gegen seinen Willen beeindruckt, sie lässt ihn nachdenklich werden, und er verteidigt sich gegenüber Fechner: „Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt nach Ihren Schilderungen.““® Walter wendet sich schließlich ab von den antisemitischen Umtrieben und bricht mit den rechtsradikalen Kreisen, in die er hineingeraten ist. Er besucht den schon todkranken Mauthner, dessen fragile Gesundheit den Aufregungen und antisemitischen Angriffen nicht gewachsen ist und bittet ihn für sein Verhalten um Verzeihung, ohne zu wissen, dass dieser sein Vater ist. Erst nach Mauthners Tod klärt seine Mutter ihn auf. Auch Mauthner stirbt, ohne den Sohn zu erkennen. Doch gibt Mauthner die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht auf: „Ein trüber Morgen! Aber er kann zum Tag werden!“ sind seine letzten Worte in einer Fiebervision.° Der Trauerzug wird zum Triumphzug für Mauthner, seine frühere Frau, sein Sohn, seine amerikanische Assistentin und seine Haushälterin (Abb. 7), Rektor und Dekan der Universität im Talar (Abb. 8) und zunehmend auch Passanten und auch Studenten, die man gegen ihn aufgehetzt hatte, folgen seinem Sarg, der durch die Straßen getragen wird. Mit den Worten „Ich geh’ dort mit!“ folgt schließlich sogar Bertram, ein militanter Gefolgsmann Fechners, dem Sarg - übrig bleibt lediglich ein einziger Unbelehrbarer.” Abb. 8: Im Trauerzug, von links: Rektor Witt (Hans Fitz) und Dekan (Otto Brüggemann) Filmproduktion in München „Das Drehbuch, das ich schreibe, wird in einigen Tagen beendet sein. Am ersten Juli wird mit dem Drehen begonnen. Sie können sich denken, wie tief ich in der Arbeit stecke und bis zur Fertigstellung stecken werde. [...] Vorläufig kann ich nicht den Timon in London machen. Erst nach Beendigung des Films, also im September“, berichtete Kortner Anfang Juni Berthold Viertel nach London.” Der Film Der Ruf sollte urspriinglich ab Juli im Filmatelier Berlin-Tempelhof gedreht werden, aber wegen der Berlin-Blockade, die im Juni 1948 einsetzte, musste die Produktion kurzfristig nach Miinchen verlegt werden. Der Film konnte deshalb erst im Herbst 1948 in den Bavaria-Ateliers in Geiselgasteig gedreht werden, auch die wenigen Außenaufnahmen wurden in München aufgenommen. Während der Dreharbeiten bekam Kortner wieder die Ablehnung zu spüren, die er in seinem Film schildert. Denn in dem von Kortner als Stadt des Führers empfundenen München kam es zu ersten Auseinandersetzungen und Demonstrationen gegen den Film noch vor dessen Fertigstellung. Eine Studentenzeitung berichtete im Oktober 1948 über „die ablehnende, wenn nicht gar aggressive Art einiger Studenten aus einer Gruppe von 120 Studierenden, die für einzelne Szenen des Films als Statisten verpflichtet worden waren und den Film, ebenso wie Kortner persönlich, mit mehr oder weniger drastischen Bemerkungen, wie etwa ‚Der Film sei Quatsch‘, eine ‚jüdische Angelegenheit‘ angegriffen haben sollen. [...] Im übrigen wird gerade die versöhnliche Tendenz [...] dem Film und Fritz Kortner von den beteiligten Miinchner Studenten abgesprochen.“” Diese Vorfälle bestärkten Kortner in seiner Auffassung, „dass unter der nachhitlerischen Studentenschaft die antijüdischen Überzeugungen noch immer héchst viril waren.“ Dabei fallte Kortner keineswegs ein Pauschalurteil, denn er stellt im Film auch deutsche Studenten dar, die sich vehement gegen Fechners antisemitische Tiraden wehren und seinen „verbrecherischen Unsinn“’* bekämpfen, und der jüdische Arzt Dr. Bartels klärt Mauthner darüber auf, dass er die Nazi-Zeit nur deshalb im Versteck überleben konnte, weil er von „mindestens 10 Leuten“”° — darunter der Rektor der Universität — versorgt und gerettet wurde. Josef von Baky setzte Kortners Drehbuch sehr getreu filmisch um, zumal der Regisseur Kortner darin schr präzise und detaillierte Anweisungen für die Schauspieler und auch für die Kameraeinstellungen notiert hatte. Deshalb ist es schwer zu entscheiden, wo von September 2015 27