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Hinunter auf die Strafe irgendwo Und ginge fort und fände irgendwann Die Sünde, die mich lockt und kehrte dann Am Morgen erst zu meinem Zimmer wieder Es wäre besser, glaub ich, als daß hier In meinem Bett ich liege, tatenlos, Weil ich die Polster nicht zerbeifsen darf Weil ich nicht schreien will des Nachts und weil Ich nicht zerbrechen will. — Die Türen zu! (..) Mein armes Ich, das mir nun manches Jahr Als artger Vogel schon im Bauer saß, Ist mir entflogen heute in der Nacht. Ich muß es locken nun und wiederfangen Eh ich an Schlafen heute denken kann. Es flattert, sieh, so wild durch meine Zimmer, (..). Es stößt den Kopf an mitleidslose Scheiben, Die Ausweg niemals sind, es reifst sich wund. Mein armes Ich! Den schönen Käfig sieh! Die Stange wo du saßst! Auf ist die Tiir, So laß dich locken doch! So flieg hinein! Dein altes Leben war ja doch so gut! Flieg nur hinein! Erzählen will ich dir An jedem Tage der Geschichten zwei; Die schönsten die ich weiß. Und hungerst du, Und wirst von den Geschichten du nicht satt, 50 sollst auch sonst du deinen Willen haben, Sei schlecht er wie er sei! Da hüpfst du schon, Noch einen Sprung (...); nun ists gut. Die Tür laß mich noch schließen hinter dir, Ein wenig noch, ja ich erzähl auch schon. Hör: „Egon sagte ... “ Steck nun deinen Kopf Noch untern Flügel! Zu ist nun die Tür! Laß schlafen mich für heute. Gute Nacht? Wie wir wissen, ist Anna Freud nicht Dichterin geworden. Von frühen Schreibversuchen über die Ausbildung und Tätigkeit als Lehrerin bis zur immer intensiveren Annäherung an die Psychoanalyse war es schließlich diese letztere, für die sie sich entschied. Publikationsversuche unterblieben, nur wenige Menschen aus dem engsten Umkreis wussten, dass Anna schrieb. Es gab jedoch eine Periode, die jedenfalls bis zur Krebserkrankung des Vaters 1923 andauerte, in der das Schreiben einen zentralen Stellenwert in ihrem Leben einnahm. Hätte ich gute Gedichte schreiben können, wäre ich Dichterin geworden’, hat Anna Freud ihrem Biografen Robert Coles gegenüber geäußert. Als ‚gute Gedichte‘ definierte sie solche, die nicht nur für sie, sondern auch für andere bedeutsam sein würden." Am meisten erfahren wir über ihre literarischen Versuche aus dem Briefwechsel mit Lou Andreas-Salom£. Die Philosophin, Schriftstellerin und schließlich Psychoanalytikerin Lou AndreasSalome hatte 1911 Sigmund Freud kennengelernt und in den Jahren 1912/13 seine Vorlesungen in Wien besucht. 1921 kam es zu einer ersten Begegnung mit Anna Freud, aus der sich eine intensive Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelte. Lou fungierte als Mentorin der um 34 Jahre jüngeren Anna, mit der sie das doppelte Interesse an Literatur und Psychoanalyse teilte. In den Briefen geht es immer wieder um innere Blockaden, die Annas Schreibvorhaben behindern. Anna erwähnt Ideen zu 40 ZWISCHENWELT Prosawerken,'' die teilweise erhalten sind, teilweise vielleicht nie geschrieben wurden. Von der ersten Begegnung mit Lou an bis zur Krebsdiagnose des Vaters, die für sie nicht nur die sukzessive Übernahme der Rolle als Nachfolgerin Freuds auf dem Gebiet der Psychoanalyse bedeutete, sondern sie auch die Pflege des Erkrankten übernehmen ließ, beschäftigte Anna am meisten die Arbeit an einem Romanprojekt. „Heinrich Mühsam“ sollte der Titel des Romans sein, der im Briefwechsel mit Lou immer wieder zur Sprache kommt, von dem jedoch nur eine einzige Textprobe erhalten ist, die Anna einem Brief an Lou beilegte. Sie habe [das Stück] solange verkleinert und zusammengedrängt bis für den andern nicht mehr viel herauszulesen ist.‘ Das ‚Verkleinern‘ und ‚Zusammendrängen‘ ist charakteristisch für Anna Freuds Prosatexte, die in ihrer Kürze und den offenen Schlüssen zunächst den Eindruck des Unfertigen erwecken, bei näherer Betrachtung jedoch als in sich geschlossene Texte erscheinen. Manche von ihnen lassen sich mit dem Begriff Kürzestprosa bezeichnen — Texte, deren Miniaturform Anna Freud noch dadurch betonte, dass sie die Blätter, auf die sie sie mit Hand oder Schreibmaschine schrieb, auf die Länge des jeweiligen Textes zuschnitt. Ihr Sprachduktus ist lyrisch, der Ton elegisch. Wir sind alle nur Häuser, die am Rande der Straßen stehen. Unsere Dächer neigen sich tief und die Türen hängen schief in den Angeln. Wir lernen alle nur eine Kunst: die Zeit, die an uns rüttelt, zu ertragen; und kennen nur ein Ziel: ein wenig zu dauern. (...)' Minimalprosa nennt die Literaturwissenschaft diese neue Textsorte, die mit wenigen Vorläufern in dieser Form erst um 1900 auftauchte.'* Dass sich umfangreichere Prosawerke aus Kurzprosastiicken zusammensetzen, wie es Anna Freud teilweise geplant zu haben scheint, kennt die deutsche Literatur aus Rilkes 1910 erschienenem Roman Malte Laurids Brigge.'? Das Erleben der Auflösung einer konsistenten Realität führte seit der Jahrhundertwende zunehmend zum Verzicht auf kausales Erzählen; lyrische und dramatische Kleinformen, skizzenhafte Prosastücke versuchten das Unfeste und Flüchtige, das tendenziell Unauslotbare des Lebendigen in Momentaufnahmen festzuhalten.'® Dort, wo keinerlei erzählerischer Rahmen skizziert wird, nähern sich ihre Kürzesttexte dem Prosagedicht, einem Textmodell, das für junge Autoren der Zeit wie etwa auch Hofmannsthal oder Altenberg den „Reiz des Unbekannten und Innovativen, zudem Fremdartigen hatte“.'’ Als Genre, das Gattungsgrenzen sprengt, steht das Prosagedicht literarhistorisch betrachtet für das Bemühen der künstlerischen Avantgarde, spezifische Modernitätserfahrungen ästhetisch umzusetzen.'® Anna Freuds Prosa steht in ihrem fragmentarischen Charakter für Wirklichkeitserfahrungen der Moderne, wie sie die Schriftsteller des Jungen Wien auch formal einzufangen versuchten, und in ihrem thematischen Fokus auf die Flüchtigkeit, Vergänglichkeit, auf die Todesgeneigtheit des Lebens für eine Seinserfahrung, wie sie die Kinder des Fin de siecle prägte.'” Ähnlich wie die Lyrik kennzeichnen vor diesem Hintergrund Themen wie Aktivitat und Passivität, Abschied, Aufbruch und die Suche nach einer Bleibe, in der das Fremdsein aufgehoben wire, sowie immer wieder die Wahrnehmung des Vergänglichen, Angst vor dem Tod und Sehnsucht danach Anna Freuds Texte. Die folgenden Minimalprosastückchen können einen Eindruck davon vermitteln.