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Anna Freuds poetische Versuche drangen nicht an die Öffentlichkeit. Die Schönheit ihrer Sprache aber wurde bis zu ihrem Lebensende immer wieder bemerkt und hervorgehoben.“ Auch ihre Affınität und Liebe zur deutschen Literatur hat sie nie verloren. Am Ende ihres Lebens las sie gerne literarische Texte in deutscher Sprache und liebte es, Gedichte von Rosegger, Rilke, C. E Meyer, Hofmannsthal, Heine, Goethe und Schiller vorzutragen. Nach ihrem Schlaganfall im März 1982 saß sie Berichten von Freundinnen zufolge am Fenster des Krankenhauses und rezitierte aus Schillers Maria Stuart.’ — Ihre Gedichte und kleinen Prosastiicke, wie sie sie als junge Frau verfasste, hat sie, sorgfältig in drei Ordnern abgeheftet, auf der Flucht aus Wien nach London mitgenommen und durch Kriegszeiten hindurch über allen Lebenswandel bis zu ihrem Tod aufbewahrt. Auch wenn ihr literarisches Schaffen nicht zu einem vom Literaturbetrieb beglaubigten ‚CEuvre‘ geführt hat, wurde es von der Autorin diesem Anschein nach doch als Werk aufgefasst und geschätzt. In diesem Sinn bilden die Texte einen basalen Faktor im Gesamtbild der historischen Persönlichkeit Anna Freud; und sie stehen darüber hinaus paradigmatisch für Schreibversuche junger Frauen im Wien der Jahrhundertwende - in einer Zeit, in der weibliche Autorschaft noch keine Selbstverständlichkeit war und sich innerhalb von geschlechtsspezifischen Stereotypen und Vorurteilen erst behaupten musste. Das Flechten und Weben hatte der Vater als die einzige genuin weibliche Kulturleistung apostrophiert’' — etymologisch zumindest ist diese ins Texten eingeschrieben. Anna hat das Häkeln und Weben und Stricken geliebt - in Rilkes neunter Duineser Elegie findet sie etwas, das ihr beim Webenlernen so gut gefallen hat; das Einfachste und Sichtbarste ist plötzlich für das andere Unzeigbare und Unsagbare gesetzt”. Texere - weben — und Texten gehen als Adressat an Lou Andreas-Salom& oft ineinander über — häufig entstehen anstelle von Texten Handarbeiten, die ohne Worte sprechen: Diesmal sind in jedem Knoten sehr viel gute Gedanken an Dich und sehr viel Hineinerzähltes, das Du wieder herauslesen mufst?. Das Geschriebene und das Ungeschriebene verbinden sich zu einem Gewebe, das als transitorische Metapher für Anna Freuds Autorinnenschaft stehen kann. Anmerkungen 1 Anna Freud: Gedichte - Prosa — Übersetzungen. Hg, eingel. u. komm. v. Brigitte Spreitzer. Wien 2014. In der Folge zitiert als AF, GPU. 2 AE, GPU, Nr. 5. 3 Elisabeth, Young-Bruehl: Anna Freud. Eine Biographie. 1.Teil: Die Wiener Jahre. Wien 1995, S. 116. 4 Uwe Hendrik Peters: Anna Freud. Ein Leben fiir das Kind. Uberarb. u. erg. Aufl. Frankfurt/M.1984, S. 31, S. 47. 5 Vel. AE GPU, S. 38 ff 6 Vgl. Anna Freud: Schlagephantasie und Tagtraum. In: Die Schriften der Anna Freud. Bd. 1: 1922-1936. Frankfurt/M. 1987, S. 141-159. 7 Vgl. dazu etwa Uwe Hendrik Peters: Anna Freud. Ein Leben für das Kind. Uberarb. u. erg. Aufl. Frankfurt/M.1984, S. 299. 8 AE GPU, Nr. 19. 9 Robert Coles: Anna Freud oder der Traum der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1995, S. 222. Hier zitiert Coles auch folgende mündliche Aussage Anna Freuds: Ich glaube, wenn ich an die Universität gegangen wäre, hätte ich Literaturwissenschaft studiert. 10 Coles, Anna Freud, S. 27 f. 11 Vgl. etwa AF, GPU, S. 226, Fun. a. 12 Lou Andreas-Salomé u. Anna Freud: »... als kam ich heim zu Vater und Schwester«. Hg. v. Daria A. Rothe u. Inge Weber. Band 1. 2., durchges. Aufl. Göttingen 2003, S. 85. 13 AK, GPU, Nr. 39. 14 Vgl. Moritz Baßler: Kurzprosa. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Harald Fricke. Bd. II: H-O. Berlin, New York 2007, S. 371-374; S. 373. 15 Vgl. ebda, S. 373. 16 Vgl. Horst Fritz: Impressionismus. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. v. Dieter Borchmeyer u. Viktor Zmega£. Frankfurt/M. 1987, S. 185-189; S. 186 £. 17 Wolfgang Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht: Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung der Moderne. Tübingen 2005, S. 248. 18 Vgl. dazu auch ebda, S. 3 ff. 19 Vgl. Horst Fritz: Impressionismus. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. v. Dieter Borchmeyer u. Viktor Zmega£. Frankfurt/M. 1987, S. 185-189; ,S. 185 ff. 20 AF, GPU, Nr. 40. 21 AE GPU, Nr. 43. 22 AF, GPU, Nr. 44. 23 AF, GPU, Nr. 48. 24 AF, GPU, Nr. 50. 25 AF, GPU, Nr. 49. 26 AF, GPU, Nr. 59 b. 27 AF, GPU, Nr. 60. 28 AE GPU, Nr. 52. 29 AF, GPU, Nr. 23. 30 Molnar, Michael: „In hündisch unwandelbarer Anhänglichkeit“. Familie Freud und ihre Hunde. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 33,2 (1994), S. 80-93, S. 89. 31 AF, GPU, Nr. 26. 32 Vel. dazu und zum Folgenden im Detail AF, GPU, S. 52 ff. 33 Sigmund Freud, Karl Abraham: Briefwechsel 1907-1925. Vollstandige Ausgabe. Hg. v. Ernst Falzeder u. Ludger M. Hermanns. Bd. 1: 1907-1914. Wien 2009, S. 387. 34 Vel. beispielsweise ebda u. Sigmund Freud, Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt/M. 1966, S. 178 f. 35 Sigmund Freud, Anna Freud: Briefwechsel. 1904-1938. Hg. v. Ingeborg Meyer-Palmedo. Frankfurt/M. 2006, S. 235, S. 244, S. 265, S. 304. 36 Lou Andreas-Salomé u. Anna Freud: »... als kam ich heim zu Vater und Schwester«. Hg. v. Daria A. Rothe u. Inge Weber. Band 1. 2., durchges. Aufl. Göttingen 2003, S. 47. Gemeint ist Anna Freuds Vortrag zur Bewerbung für die Mitgliedschaft bei der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1922. 37 Ebda, S. 85. 38 Ebda, S. 138. 39 Ebda, S. 399 u. S. 400. 40 Vgl. Josef Breuer u. Sigmund Freud: Studien über Hysterie. 6. Aufl. Frankfurt/M. 2007. 41 Vel. dazu im Detail AK, GPU, S. 38 ff. 42 Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ. 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe. Hg. v. Jeffrey M. Masson. Bearb. d. dt. Fassung v. Michael Schröter. Frankfurt/M.1986, S.432 f 43 Sigmund Freud, Anna Freud: Briefwechsel. 1904-1938. Hg. v. Ingeborg Meyer-Palmedo. Frankfurt/M.2006, S. 161. 44 Martin Freud: Mein Vater Sigmund Freud. Heidelberg 1999, S. 115. 45 Ebda. 46 Vgl. Hans-Martin Lohmann u. Joachim Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch. Leben — Werk — Wirkung. Stuttgart, Weimar 2006, S. 323 f. 47 AF, GPU, Nr. 29. 48 AF, GPU, Nr. 65. 49 Vgl. dazu im Detail ebda, S. 80 f. 50 Vgl. ebda, S. 81. 51 Vgl. Sigmund Freud: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Bd. I: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Und Neue Folge. 14., korr. Aufl. Frankfurt/M.2003, S.562. 52 Lou Andreas-Salomé u. Anna Freud: »... als kam ich heim zu Vater und Schwester«. Hg. v. Daria A. Rothe u. Inge Weber. Band 1. 2., durchges. Aufl. Göttingen 2003, S. 190. 53 Ebda, S. 117. September 2015 43