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Bereits am 27. Juni 1945 hatte sich ein Proponentenkomitee, an dem Pötzl nicht beteiligt war,” an das Staatsamt fiir Unterricht gewandt: „Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung wurde im März 1938 aufgelöst, die Räume samt Einrichtung beschlagnahmt, die Bibliothek vernichtet, das Barvermögen eingezogen und die Psychoanalyse auch in Österreich verboten. In Wien bildete sich entgegen diesem Verbot eine Gruppe von Freudanhängern, geführt von dem einen in Wien zurückgebliebenen Psychoanalytiker [August Aichhorn]. Die vereinigten Ärzte und Psychologen stellten sich die Aufgabe, die Lehre Freuds über die Zeit des Nationalsozialismus frei von jeder Verfälschung zu erhalten. Die Zusammenkünfte dieser Gruppe erfolgten zuerst privat, dann im Rahmen der Zwangsorganisation: Deutsches Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin, ohne daß die Leitung die wirkliche Absicht dieser Gruppe erkannte. Trotz des nationalsozialistischen Terrors wurden auch Neurosenanalysen durchgeführt, sie liefen als psychotherapeutische Behandlungen. Diese Gruppe fühlt sich, danun die Wissenschaft frei ist, berechtigt, die Wiener Psychoanalytische Vereinigung wieder aufleben zu lassen. Sie hat sich als Proponentenkomitee konstituiert. Die Unterzeichneten ersuchen als die vorläufigen Beauftragten dieses Komitees das Staatsamt für Unterricht um die Genehmigung zur Gründung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung mit demselben Arbeitsprogramm, das die im Jahre 1938 aufgelöste Vereinigung verfolgte.“ Als Anna Freud Aichhorn geschrieben hatte, dass sie mit der Wiedererrichtung eines psychoanalytischen Vereins in Wien einverstanden sei, verfassten Aichhorn und Alfred Winterstein — verbunden mit einer eidesstattlichen Erklärung, dass sie nie der NSDAP angehört hatten - ein auf den 22. 9. 1945 datiertes Ansuchen an den Wiener Magistrat wegen „Außerkraftsetzung der Auflösung des Vereins ‚Wiener Psychoanalytische Vereinigung‘ und um Genehmigung des Wiederauflebens der Vereinstätigkeit“. Die Frage der Rückkehr von Mitgliedern der „alten“ WPV: Die ersten Verbindungswege nach England und in die USA wurden für Aichhorn im Herbst 1945 durch zwei Angehörige der US-Armee, Klara Wolf? und H. Delfiner,? eröffnet. Besonders wichtig war es für ihn, den Kontakt zu Anna Freud und zu Ernst Kris?! herzustellen. Er hoffte, dass sie ihm helfen würden, Analyüker zu finden, die bereit wären, nach Wien zurückzukehren, um die Schulung der neuen Mitglieder der zukünftigen Wiener Vereinigung zu übernehmen. Aichhorn hatte im November 1945 etwa gleichlautend an Anna Freud und Kris geschrieben: „Die Genehmigung des Ansuchens zum Wiederaufleben der 1908 von Prof. Freud gegründeten Vereinigung steht in nächster Zeit bevor. In die Wohnung Rathausstraße 20, in der anschließend das Ambulatorium eingerichtet werden soll, bin ich seit einigen Wochen übersiedelt. Die größte Sorge — alle anderen Schwierigkeiten sind zu überwinden — macht mir die gründliche Ausbildung der heranwachsenden Analytiker. Wenn ich auch in den vergangenen 7 Jahren mein möglichstes getan habe und mich weiter intensiv bemühen werde, so genüge ich lange nicht. Am liebsten wäre es mir, wenn von den erfahrenen Analytikern der alten Vereinigung einige hierher kämen und die Ausbildung übernähmen. Aber wer von den im Ausland lebenden Analytikern sollte das draußen Aufgebaute im Stiche lassen, um hier in den sich noch lange nicht ändernden Verhältnissen 46 ZWISCHENWELT zu vegetieren? Ich sähe noch eine Lösung: Wir, das heißt, Sie, Dr. Kris, mit dem ich schon in Verbindung stehe, noch der eine oder andere Analytiker und ich, arbeiten ein den besonderen Verhältnissen hier Rechnung tragendes Ausbildungsprogramm aus. Unter den Analytikern setzt eine Werbeaktion ein, damit sich 2, 3 oder noch mehr zu einem vorübergehenden Aufenthalt in Wien, erwa in ihrer Urlaubszeit, melden. Die zum Ausbildungsprogramm gehörenden Vorträge werden unter diesen aufgeteilt. Ein Turnus, der die Reihenfolge, in der die Vortragenden nach Wien kommen, festlegt, wird aufgestellt. Was sonst noch vorher festzulegen wäre, erledigen wir brieflich. Finden Sie, daß ich einem Tagtraum nachjage, dann bitte ich Sie um realisierbare Vorschläge“ (Aichhorn, Th. 2012, S. 171f). Auf die Beantwortung seiner Frage musste Aichhorn monatelang warten. Er schrieb am 5. März 1946 an Kris: „Leider ist Ihre Antwort auf meinen Brief vom 16. November noch immer nicht da und Ihre Stellungnahme zu meinen Absichten zur Ausbildung werdender Analytiker ist ‚lebenswichtig‘. Ich kann zu einem endgültigen Entschluß nicht kommen, ehe ich Fräulein Freuds und Ihre Meinung kenne. Auch Fräulein Freuds Antwort steht noch aus.“ Die Antwort Anna Freuds auf Aichhorns Frage ist mit dem 21. Februar 1946 datiert: „Ich bin voll Bewunderung für Sie und Ihre Tatkraft, mit der Sie wieder aufbauen. Dr. Kris hat mir eine Kopie von seinem Antwortbrief an Sie geschickt. Sicher wollen wir alle Ihnen gerne helfen, soweit es geht. Freizügig im Reisen sind die Emigranten nicht. Ich habe noch keine Staatsbürgerschaft und, che man das hat, ist Reise und Rückkehr sehr riskant. Aber vielleicht sind in 1 — 2 Jahren alle diese Schwierigkeiten verflogen und die Welt wieder offen, wie sie es einmal war* (Aichhorn, Th. 2012, S. 178f). Und am 3. Mai 1946 schrieb sie: „Sie dürfen sich nicht wundern, daß ich auf Ihre Anfrage über die Teilnahme emigrierter Wiener Analytiker an der Ausbildung bei Ihnen vorläufig keine Antwort gegeben habe. Die Antwort darauf hängt von Faktoren ab, über die wir keinerlei Macht haben. Vorläufig hat niemand von uns Ausgewanderten eine neue Staatsbürgerschaft, auch ich nicht, das heifst, daß wir keine Reisepässe haben und daß man lieber das Land, in dem man lebt, nicht verläßt, weil man Schwierigkeiten bei dem Wiedereinlassen haben kann. Auch geben andere Lander auf ein sogenanntes Identitatspapier, das ist der Reisepaßersatz für Leute ohne oder mit unsicherer Staatsbiirgerschaft, nur in den allerdringendsten Fallen ein Visum. Und ganz abgesehen von dieser Schwierigkeit, die uns emigrierte Wiener betrifft: Hier in England werden vorläufig Reiseerlaubnisse nach Deutschland und Österreich überhaupt nicht gegeben, außer, wie im Falle von Dr. Hollitscher, zur endgültigen Rückkehr und sogar dafür warten viele Hunderte auf die Erledigung ihres Ansuchens. Ein solcher Austauschverkehr, wie Sie ihn im Auge haben, ist also erst dann möglich, wenn die Reiseverhältnisse wieder normal geworden sind und wenn die in Betrachtkommenden wieder Reisepässe haben“ (Aichhorn, Th. S. 188). Kris’ Antwort, datiert mit 11. Dezember 1945, traf erst am 23. März 1946 in Wien ein. Er hatte geschrieben: „Die Nachrichten über die Wiedererrichtung der Psychoanalytischen Vereinigung und über Ihre Untergrundausbildung sind hier von allen Ihren Freuden mit Beifall begrüßt worden. Wir bewundern Ihre Energie und nehmen in Gedanken an Ihrer Arbeit teil. Was die persönliche Teilnahme betrifft, so habe ich noch von keinem unserer Kollegen gehört, dass er daran dächte, nach Wien zurückzukehren. Aber ich bin natürlich bei Weitem nicht mit allen in Kontakt. Was Ihre