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Evelyn Adunka Die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) wurde am 31. Oktober 1942 aufgelöst. An ihre Stelle trat der „Ältestenrat der Juden in Wien“. Josef Löwenherz (1884 — 1960), der von den Nationalsozialisten 1938 eingesetzte Leiter der IKG, blieb bis zur Befreiung auch Leiter des Ältestenrats. Der Zionist und Rechtsanwalt Löwenherz war Kultusvorsteher und Vizepräsident der IKG gewesen und ab 1935 provisorischer, ab 1937 definitiv bestellter Amtsdirektor. Im Mai 1945 wurde Löwenherz von der Roten Armee verhaftet, etwa drei Monate lang festgehalten, der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt und in die Tschechoslowakei gebracht. Nachdem er sich den Arm gebrochen hatte, wurde er freigelassen. Er schleppte sich nach Prag, wo ihn seine Frau, Sophie Löwenherz (1890 — 1981), die frühere Präsidentin der Wiener WIZO, fand. Über die Schweiz und England ging das Ehepaar zu seinen beiden Kindern in die USA; Josef Löwenherz kehrte nie wieder nach Österreich zurück.! Zu dem Prozeß, den man gegen ihn vorbereitet hatte, kam es aufgrund des Unfalls mit dem Armbruch nicht. Die Vorwürfe, die überlebende Wiener Juden, deren Familien ermordet worden waren, aus einem begreiflichen Ressentiment und Ohnmachtsgefühl heraus gegen ihn vorbrachten, beruhten mehr auf Emotionen als auf tatsächlichen Erfahrungen oder beweisbaren Fakten. In zahlreichen wissenschaftlichen Studien, die in den letzten Jahren, nachdem sein Nachlass im Center for Jewish History in New York zugänglich wurde, entstanden, kann man nicht nur nachlesen, wie verzweifelt seine persönliche Lage war, sondern auch, wie sehr er sich mit seinen Mitarbeitern für das Überleben der in Wien verbliebenen Juden einsetzte. Im Juli 1945 sprach Löwenherz auf einer Versammlung der Association of Jewish Refugees; der aus Wien emigrierte Rechtsanwalt Franz Rudolf Bienenfeld (1886 — 1961), der ebenfalls sprach, schätzte die Situation in Wien folgendermaßen ein: „Ein jeder, der in einem von den Nazi besetzten Lande in einer öffentlichen Stellung zu verbleiben genötigt war oder der sich moralisch für verpflichtet hielt, eine solche Stellung im Interesse seiner Schutzbefohlenen beizubehalten, mußte mit den deutschen Behörden arbeiten und in diesem Sinne war er ein Kollaborant.“? Die damaligen Angestellten der IKG, an der Spitze Wilhelm Bienenfeld (nicht verwandt mit Franz Rudolf Bienenfeld, war bis Juni 1938 Direktorstellvertreter im Wiener Giro- und Kassenverein, ab September 1939 Rechnungsdirektor der IKG; er überlebte durch eine Mischehe geschützt), die Löwenherz ihr Leben verdankten, lebten in jenen ersten Wochen noch in der völlig irrigen und unrealistischen Annahme der möglichen Rückkehr und Wiedereinsetzung des einstigen Amtsdirektors. Wilhelm Bienenfeld appellierte an den zuständigen österreichischen Staatssekretär (den Kommunisten Ernst Fischer) er möge versuchen, an geeigneter Stelle die Freilassung von Löwenherz durchzusetzen. Ernst Fischer ernannte noch im Mai den 75jährigen Arzt Heinrich Schur, der geschützt durch seine nichtjüdische Frau in Wien überlebt hatte, zum provisorischen Leiter der IKG. In der NSZeit leitete Schur die Abteilung für innere Medizin im jüdischen Spital in der Malzgasse. Zum Beirat für Schur ernannte Ernst Fischer Professor Benzion Lazar, Mittelschullehrer und früherer Präsident des Verbandes 50 ZWISCHENWELT jüdischer Kriegsinvaliden, -witwen und -waisen in Wien, der in der Zwischenkriegszeit mehrere hundert Mitglieder hatte. Lazar wurde 1882 in der Bukowina geboren, trat bereits in Czernowitz der Misrachi bei, deren Ehrenpräsident er auch nach dem Krieg in Wien war, und lebte seit 1907 in Wien. Die NS-Zeit überlebte er als Zwangsarbeiter. 1941 wurde Lazar auf Verlangen der Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Präsident des Verbandes abgesetzt; sein Nachfolger wurde Siegfried Kolisch. Der Verband mit dessen Stellvertreter Bernhard Braver war nach 1945 kaum mehr aktiv.* In einem Interview mit der Jewish Telegraphic Agency beschuldigte Lazar Löwenherz und Bienenfeld „der Zusammenarbeit mit der Gestapo bei der Organisation von Deportationen von Juden zum Zwecke ihrer Ausrottung unter dem Naziregime“. Der Zionist Alfred Weishut war in Wien bereits seit Anfang des Jahrhunderts zionistisch aktiv. 1939 hatte er am World Zionist Congress in Genf teilgenommen und blieb als Angestellter der Organisationsabteilung der World Zionist Organisation, die Lebensmittelpakete in die KZs und Ghettos schickte, bis 1945 in Genf. Nach 1945 kehrte er nach Wien zurück, wo er unter anderem Vorstandsmitglied des Zionistischen Landesverbandes war. Im Auftrag des World Jewish Congress unternahm er im November 1945 eine vierwöchige Informationsreise durch Österreich; in seinem Bericht ergriff er für Löwenherz Partei und schrieb über Schur, dieser verstehe „infolge seines Alters und sonstigen Unverstands“ nichts von jüdischen Angelegenheiten. Ähnlich wie Weishut bezeichnete auch Franzi Löw, einzig verbliebene Fürsorgerin der IKG in der NS-Zeit, Schur als senil und „vollkommen ungeeignet als Leiter“ der IKG. Im August 1945 wurde Emil Tuchmann von Saly Mayer, dem Vertreter des Joint in Genf, zum Vertrauensmann des Joint für Wien ernannt. Tuchmann war von 1928 bis 1934 beamteter Arzt der Wiener kaufmännischen Gebietskrankenkasse und danach praktischer Arzt in Wien-Leopoldstadt. Er war vor 1938 ein Mitglied der Poale Zion. Während des Krieges sorgte er für die nach Österreich deportierten ungarischen Juden und kam dadurch in Kontakt mit Rudolf Kasztner, der wiederholt in Wien war. Anfang 1940 wurde er über Vorschlag von Löwenherz Vertrauensarzt der IKG für den gesamten Gesundheitsdienst. Er arbeitete zuletzt als umstrittener und später zu Unrecht der Kollaboration mit den Nazis beschuldigter Leiter des jüdischen Spitals in der Malzgasse und war nach dem Krieg bis zu seiner Pensionierung Chefarzt der Wiener Gebietskrankenkasse für Arbeiter und Angestellte und Leiter des Wiener Jugendambulatoriums, spielte aber nie wieder eine Rolle im Wiener jüdischen Leben. Nach einem Bericht von Tuchmann an Saly Mayer waren 65% der rund 4100 Juden in Wien über 60 Jahre alt und befanden sich alle in einem weit schlimmeren Zustand der Unterernährung als die übrige Bevölkerung. Nichtkonfessionelle Juden, die keine Jeint-Pakete erhielten, protestierten noch im März 1947 gegen diese Behandlung in einem Brief an den Joint. Die IKG hatte nur sehr geringe finanzielle Mittel, ihre Institutionen waren bombengeschädigt, im jüdischen Spital und