OCR
Altersheim waren alle Fenster zerstört. Tuchmann nannte die IKG ein „Schiff ohne Ruder“ mit einem überalterten Beamtenapparat. Mitte September 1945 wurde auch Tuchmann von den Russen verhaftet und erst Ende Oktober ohne Angabe von Gründen wieder entlassen. Er legte daraufhin seine Funktion beim Joint zurück. Gerichtliche Vorerhebungen gegen ihn im Herbst 1945 führten zu keinem Ergebnis. Im September 1945 trat Schur zurück. Ernst Fischer ernannte daraufhin David Brill, den Privatsekretär des KPÖ-Vorsitzenden Johann Koplenig, zum neuen Leiter der IKG. Leider gibt es kaum Quellen und keinerlei biographische Einträge über Brill; er war vor 1938 Redakteur der Roten Fahne und hatte als Zwangsarbeiter in Wien überlebt. Die neue Leitung der IKG wollte ursprünglich gegen die früheren Angestellten Wilhelm Bienenfeld, Erich Breuer, Grete Breuer, Rudolf König, Wilhelm Reisz, Leo Balaban, Bruno Feyer, Max Weish, Emil Tuchmann, Arnold Raschkes, Josef Löwenherz, Benjamin Murmelstein und Robert Prochnik (obwohl die letzten drei nicht mehr in Wien waren) Disziplinarverfahren anstrengen, wozu es jedoch nicht kam. Bienenfeld wurde kurzfristig von den sowjetischen Behörden verhaftet. Zum Beirat von Brill und ersten ehrenamtlichen Amtsdirektor wurde Bernhard Braver bestellt, einer der aktivsten zionistischen Funktionäre der IKG in den Nachkriegsjahren. Braver wurde 1891 in Galizien als Sohn eines Gutsverwalters geboren und war als Gymnasiast in Stanislau aktiv in der Poale Zion. 1909 übersiedelte er nach Wien; im Ersten Weltkrieg rückte er als Einjährig-Freiwilliger ein; 1917 wurde er schwer verwundet. Ab 1919 arbeitete er für die Verkehrsbank, später für die CreditAnstalt. Er war langjähriger Obmann des freigewerkschaftlichen Betriebsrates der Verkehrsbank, Vizepräsident des Reichsvereines der Bank- und Sparkassenbeamten Österreichs und Vizepräsident der Krankenkassen der Bankangestellten. Auch in Wien war er in der Poale Zion aktiv. 1941 war er neben Desider Friedmann und Josef Löwenherz einer der 15 Teilnehmer des traditionellen Herzl-Grabgangs. Als Kriegsinvalide wurde er 1942 nach Theresienstadt deportiert, nachdem er vorher versucht hatte, in Wien als U-Boot zu überleben. Wien war ab 1945 auch Durchgangspunkt tausender jüdischer Displaced Persons (DPs). Im August 1945 wurde deshalb in Wien das „Internationale Komitee für durchreisende jüdische KZler und Flüchtlinge in Österreich“ gegründet. Auf seinem Briefkopf stand: Affiliated with World Jewish Congress und Vertretung namhafter ausländischer jüdischer Organisationen“. Davor existierten nur ein polnisches und ein ungarisches Hilfskomitee, aber keine Dachorganisation. In der konstituierenden Sitzung am 21. August wurden unter anderem David Brill, Wilhelm Krell, der spatere langjahrige Amtsdirektor der IKG, und Ing. Albert Welt (als Delegierter des rumänischen Roten Kreuzes) gewählt. Welt ist der Vater der Schriftstellerin Elisabeth W. Trahan (1924 — 2009), die 1996 mit dem Buch Geisterbeschwörung eines der wichtigsten Zeugnisse über das Leben der Juden in der NS-Zeit in Wien publizierte. Vorsitzender des Komitees und Geschäftsführer war Bronislaw Teichholz. Er lebte vor der Shoah als Geschäftsmann in Lemberg und ging als Kommandant einer Partisaneneinheit 1942 nach Budapest, wo er ein Mitarbeiter Raoul Wallenbergs war. 1945 arbeitete er für das ungarische Rote Kreuz; Levi Argov, ein Emissär der Brichah aus Palästina, bat ihn, nach Wien zu gehen. Bis zum Jänner 1946 gelang es dem Komitee, aus dem Wiener jüdischen Rothschildspital am Währinger Gürtel, das Teichholz von den Amerikanern übergeben wurde, einem verwahrlosten, tür- und fensterlosen Gebäude, eine Unterkunft für täglich mindestens 500 bis 600 Personen zu schaffen. (Das berühmte und modern eingerichtete Rothschildspital, in dem einst viele Ärzte der Wiener medizinischen Schule und Gelehrte von Weltruf arbeiteten, mußte 1942 auf Befehl der Nationalsozialisten geräumt und in ein Notspital in das Gebäude Malzgasse 16, die frühere Talmud-Thora-Schule, verlegt werden, wobei nur ein ganz geringer Teil des wertvollen Inventars mitgenommen werden konnte.’) Bis 1948 versorgte das Komitee nicht weniger als 164.000 jüdische DPs. Von der IKG erhielt es keine Hilfe, im Gegenteil, es spendete in den ersten Jahren sogar 150-200 Mittagessen für das Elternheim in der Seegasse und stellte für die Rückkehrer aus Shanghai und aus Karaganda Kleidung, Medikamente und Quartier zur Verfügung. Bereits am 13. Jänner 1946 veranstaltete das Komitee vor ausverkauftem Saal den ersten jüdischen Lieder- und Rezitationsabend seit der Befreiung mit den Künstlern Jonas Turkow (der einst berühmte jiddische Schauspieler aus Krakau, Theaterdirektor und Überlebende des Warschauer Ghettos, der bald danach in die USA und später nach Israel auswanderte), dessen Frau Diana Blumenfeld und Dydio Epstein. 1950 verließ Teichholz, der sich innerhalb der IKG auch für die zionistischen Organisationen und Wahllisten, besonders für die Poale Zion engagierte, Österreich. Er ging zuerst nach Israel und lebte seit 1952 in New York, wo er seinen Vornamen auf Bruce änderte, Präsident des ORT (Organisation — Reconstruction — Training, jüdische Organisation zur Förderung der Berufsausbildung), Vorstandsmitglied des Joint und der Anti-Defamation-League sowie Präsident einer konservativen Synagoge wurde. In Israel wurde er 1968 mit der Medaille der Haganah und 1988 mit dem State Fighter’s Award ausgezeichnet. 1988 wurde er auch von der jüdischen Gemeinde in Budapest gechrt. Er starb 1993. Sein Sohn Tom Teicholz lebt als Filmproduzent, Anwalt und Journalist in Los Angeles und veröffentlichte 1988 ein Buch über John Demjanjuk. Seine Tochter, die Fotografin und Künstlerin Debbie Teicholz-Guedalia, sprach im Jahr 2000 in Washington auf der Konferenz „Life Reborn. Jewish Displaced Persons 1945-1951“. Im Oktober 1945 ließ die Ernährungslage der Wiener Juden noch immer sehr viel zu wünschen übrig und auch die Zuwendungen des Joint waren spärlich. Ernst Schindler, der damals das lokale Wiener Joint Komitee leitete, berichtete, daß Überlebende von Iheresienstadt, U-Boote sowie deren Familien, Geltungsjuden, in Wien auch „Sternträger“ genannt, Mischehen und Nichtjuden, die Juden während der NS-Zeit geholfen hatten, überhaupt erst ab August Joint-Pakete erhielten. Vorher hätten nur KZler Pakete erhalten. Im November baten Brill und Braver den Joint um Medikamente aller Art und um Kleidung für 4.000 Menschen. Im Dezember 1945 wurde in New York eine eigene allgemeine, nicht betont jüdische offizielle amerikanische Hilfsorganisation für Österreich, die „American Relief to Austria Inc.“, gegründet, deren Vorstand unter anderem Julius Deutsch, Hans Rott, Karl Hans Sailer, Ernst Karl Winter, Ferdinand Bruckner, Hermann Oppenheim, Ernst Papanek, Richard Berczeller und Siegfried Altmann angehörten. Manchen Schwierigkeiten in jenen Jahren, besonders im Jahr 1945, konnte scheinbar nur durch couragierte Initiativen einzelner September 2015 51