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Mitglieder der alliierten Besatzung begegnet werden, wie das Beispiel von Harry A. Freidenberg aus Los Angeles, Administrative Officer of the Military Government Section in Wien und in dieser Funktion der zweite Amerikaner, der am 22. August 1945 Wien betrat, zeigt. Freidenberg beschrieb 1947 in einem Brief an Rabbiner Max Nussbaum in Hollywood, wie er bereits in der ersten Woche den Wiener Stadttempel besuchte und sehr erstaunt darüber war, dass nach allem, was geschehen war, zum Freitagabendgottesdienst immerhin noch eine Handvoll Menschen kam. Er war davon so beeindruckt, daß er sich entschloß, alles in seiner Macht zu tun, um den Überlebenden zu helfen. Obwohl es eine Verletzung der militärischen Regeln war, sorgte er in der Folge mithilfe von Major Earl L. Keiter, einem Katholiken aus Ohio, für die Überbringung der Post der Überlebenden an ihre Verwandten in Übersee. Es kam derartig viel Post zusammen, daß er ein eigenes Büro dafür einrichten musste. Als er im November 1945 Wien verließ, befanden sich nicht weniger als 3.000 Wiener Juden auf seiner Postliste. Zusammen mit Captain Stern gründete Keiter 1945 auch den Jewish Military Club im Gebäude der IKG am Schottenring, der von ungefähr 100 Soldaten aller vier Besatzungsmächte frequentiert wurde. Ab Jänner 1946 erschien die erste, von Albert Welt und später von Bernhard Braver redigierte Wiener jüdische Zeitschrift mit dem Titel Der Neue Weg. Jüdisches Organ mit den amtlichen Mitteilungen der IKG. Im Leitartikel der ersten Nummer bezog sich David A. Brill als „Leiter“ der IKG (vor seiner Wahl zum Präsidenten) in aller Offenheit auf die durch den Nazismus geschlagenen Wunden und die nicht weniger bitteren Enttäuschungen der ersten Nachkriegszeit. Er rang um eine Erklärung des geschehenen Grauens — wo die traditionellen jüdischen Deutungsmuster für das jüdische Leid in der Geschichte längst nicht mehr greifen — mit Worten und mit einer Analogie aus der Hagada, die auch etwas vom jüdischen Profil dieses ersten Repräsentanten der Wiener Juden nach der Shoah, über dessen Persönlichkeit sonst so wenig bekannt ist, erahnen lassen: Und wenn Israels Verfehlungen so schwarz gewesen wären wie die Hölle, wenn Israels Sünden so zahlreich gewesen wären wie die Sterne am Himmel und der Sand im Meere, das, was es erlitten hat, ist tausend- und tausendfach furchtbarer als alle denkbaren Verbrechen der Welt, was es mitgemacht hat, millionenfach ungeheuerlicher als alle nur denkbaren Sünden, ist unendlich größer als alles, alles, was irgendein Volk verschuldet haben kann. Dieser Weg nach Golgatha [sic] ist beispiellos in der ganzen Geschichte der Menschheit. [...] Und nun, da wir — wie gesagt — wenigen, die dem Tod nur durch eine Verkettung allerglücklichster Umstände, die uns wie ein Wunder vorkommen, der Vernichtung entronnen sind, da wir aus dieser tieffinsteren Nacht erwacht sind und erwarteten, daß jetzt das Morgenrot der Freiheit aufgehen würde, sehen wir uns in dieser Hoffnung voll und ganz enttäuscht. Was ist in unserer Heimat, in Österreich, bisher für uns Juden geschehen? Was hat man bisher für uns getan, nicht um unser Leid vergessen zu machen, was unmöglich ist, sondern nur, um gutzumachen, um zu entschädigen für all die Qual und Not, für all die Herabwürdigung und Entehrung an Leib und Seele? Wenn wir sagen gutmachen, so müssen wir uns fragen, ist das überhaupt möglich? Kann man an uns jemals gutmachen, was an uns verbrochen wurde? Kann man unsere Toten, unsere Nächsten, wieder zum Leben erwecken? Kann man den Gram, der unser Herz bedeckt, entfernen? Kann man unsere erschütterte Gesundheit, die sich ja schon längst zu unheilbarem Leiden verdichtet hat, uns jemals wieder zurückgeben? Kann man überhaupt je die sieben Jahre der 52 ZWISCHENWELT tiefsten Schmach hinwegnehmen? Gewiß nicht. Aber wenigstens als Menschen gleich den übrigen dazustehen, wie es die Grundsätze der Demokratie verlangen ... wenigstens das wieder zu erhalten, was uns entrissen und geraubt wurde, wenigstens einen Ersatz für alle Schäden, die uns zugefügt wurden, zu erhalten, das konnten wir doch wirklich mit Fug und Recht erhoffen. Auch diese Hoffnung hat einstweilen getrogen. Nichts haben wir erhalten, nicht die Wohnung, das Heim, aus dem wir mit Gewalt und mit krassester Ungesetzlichkeit herausgeworfen wurden, nicht unser Eigentum, das uns entrissen wurde, nichts, nichts haben wir bis heute zurückerhalten ... der Jüdische KZ.ler wird so behandelt, als wäre er ein kriminell Verfolgter. Danach kam Brill zu dem wohl härtesten Resümee, das in diesem Zusammenhang denkbar ist: So sehen wir: Hat der Nationalsozialismus die Juden ermordet, so läßt man sie heute nicht leben. Doch wir Juden sind willens, am Leben zu bleiben, wir sind willens, unser Recht zu verlangen und durchzusetzen. Brill beendet seinen Artikel mit einem rückhaltosen Bekenntnis sowohl zu Österreich als auch zur neuen Heimat des jüdischen Volkes in Israel: Dies ist unser Ziel, dies unser Weg: als treue Söhne unserer Heimat mitzukämpfen in der Front der befreiten Menschheit gegen jede Wiederkehr des fluchwürdigen Faschismus und mit voller Kraft mitzuarbeiten am Wiederaufbau unseres von den Nazis zerstörten und zerrütteten Vaterlandes. Jenen aber, die keinen Platz mehr finden in der bisherigen Heimat, zu helfen, sich die neue und zugleich uralte Heimat Erez Israel wieder zu errichten in friedlichem Zusammenwirken mit den arabischen Brüdern, die guten Willens sind. Die vom Kultusamt eingesetzte provisorische Leitung der IKG hatte die Aufgabe, so bald wie möglich Wahlen durchzuführen. Diese fanden am 7. April 1946 statt, wobei nur zwei wahlwerbende Listen, eine Einheitsliste, die „sämtliche Strömungen und Richtungen innerhalb der Judenschaft“ umfassen sollte, aber tatsächlich von jüdischen Kommunisten (vor allem David Brill, Eduard Broczyner, Akim Lewit und Michael Kohn) dominiert wurde, und die Liste des Verbandes jüdischer Kriegsopfer unter Benzion Lazar antraten. Die Einheitsliste, die sich auch Jüdisches Komitee nannte, schlug in ihrem Wahlprogramm vor, daß alle österreichischen Ämter und Ministerien, in denen die Angelegenheiten der Juden behandelt werden, „jüdische Beamte“ einstellen mögen, „die sich ressortmäßig nur mit derlei Fragen zu befassen haben.“ Ihre weiteren Vorstellungen und Pläne waren allerdings weit entfernt von der Realität und daher auch der Realisierbarkeit. Ihre Absicht war es, die IKG und die Wiener Juden „wieder auf ihre historische Höhe zu bringen“. Nach der Forderung nach Aufklärung gegen den Antisemitismus in aller Welt hieß es: Ein weiterer Programmpunkt in der ideellen Seite unserer Aufgabe ist Hochhaltung und Intensivierung von Wissenschaft und Lehre auf Jüdischem Gebiet. Die Israelitische Kultusgemeinde Wien hat in dieser Richtung eine hervorragende Geschichte und vornehme Tradition. [...] Es muf wieder unser Bestreben sein, uns dieser Geschichte und Tradition würdig zu erweisen. Die Wissenschaft wurde vor Jahrzehnten durch die Errichtung einer eigenen jüdisch-theologischen Lehranstalt unter der Leitung eines berühmten, wissenschaftlich international gebildeten Rektors gefördert. Wir hatten eine jüdische Mittelschule; ein jüdischer Kindergarten und eine jüdische Volkshochschule forderten die Heranziehung der Jugend in jüdischem Geist. Alle diese Aufgaben müssen wir wieder mit großem Nachdruck aufnehmen. Das jüdische Volk muß auch jüdisch gebildet sein und jüdischen Geist hochhalten.