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Es wurden insgesamt 2643 Stimmen abgegeben, von denen 2427 (92 Prozent) auf die Einheitsliste und 216 auf den Verband der jüdischen Kriegsopfer entfielen. Zum Präsidenten wurde vom Kultusvorstand mit 25 Stimmen David Brill gewählt, während auf Generalmajor Emil Sommer vom Verband der jüdischen Kriegsopfer acht Stimmen entfielen.‘ Anmerkungen 1 Der Beitrag ist eine aktualisierte und überarbeitete Zusammenfassung der ersten Kapitel meines Buches „Die vierte Gemeinde. Die Wiener Juden in der Zeit von 1945 bis heute. Berlin, Wien 2000. Karl Wimmler Heimatkunde Heimatkunde 1: Das seltsame Entschwinden des Ignaz Eisler Gabe es die alten Fotos nicht, ich hatte wahrscheinlich nie etwas davon erfahren, dass Ignaz Eisler gelebt hat. Aber nicht, weil er auf den Fotos zu schen wäre. Im Gegenteil, ich weiß bis heute nicht, wie er ausgeschen hat. Nur auf der Rückseite der Fotos stand sein Name. Er war einmal der einzige Fotograf des Ortes. Aber gesprochen hat niemand von ihm. Seine Fotos, die ich sah, waren äußerst klein und schon ziemlich vergilbt. Ich fand sie auf dem riesigen Dachboden meines Elternhauses, der in der kalten Jahreszeit zum Trocknen der Wäsche genutzt wurde. Aber er war auch vollgeräumt mit Gerümpel, alten Kästen und anderen Möbelstücken, die wiederum vollgestopft waren mit lauter Sachen, von denen behauptet wurde, man könne sie irgendwann wieder gebrauchen. Aber man konnte dort auf der Suche nach geheimnisvollen Familienschätzen auch Schachteln mit allerlei Kleinkram finden. Wie die uralten Fotos. Bei den Fotos in der Lade des Küchentisches hingegen stand nicht mehr Ignaz Eislers Name auf der Rückseite, sondern der Fotograf, den ich kannte: Sepp Baumgartner. Dessen Geschäft an der Hauptstraße war auch mir ein Begriff, gab es dort damals doch die einzigen Ansichtskarten des Ortes zu kaufen. Alle mit dem Aufdruck auf der Rückseite, manchmal auch auf dem Foto selbst: „Foto Baumgartner“. Wenn ich mich richtig erinnere, waren manche Fotos auch koloriert, das heißt, die Schwarz-Weiß-Fotos waren — nach heutigen Begriffen: primitiv — eingefärbt, was sie infolge der sich rasch ändernden Sehgewohnheiten bald kitschig erscheinen ließ. Dieser Sepp Baumgartner war es auch, der vielen Jahrgängen von Kindern ein Begriff wurde, weil er jährlich vor dem Schulgebäude die Klassenfotos arrangierte. Mir war er immer unsympathisch. Weil ich ihn, besonders zu Kindern, nur als unfreundlich erlebte und kalt und humorlos und nur den geschäftlichen Vorteil suchend. Wer weiß. Möglich, dass andere bessere Erfahrungen mit ihm gemacht haben. Wie auch immer, kaum war meine Volksschulzeit vorbei und ich in die Landeshauptstadt übersiedelt, verblasste die Erinnerung an den Fotografen, bis ich ihn ganz vergaß. Viele Jahre später allerdings bekam ich ein Schreiben eben dieses Sepp Baumgartner zu Gesicht. Kaum erblickte ich den Stempel seines Geschäfts auf dem zweiseitigen mit Maschine getippten 2 Vel. Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt/M. 2000; Doris Tausendfreund: Erzwungener Verrat. Jüdische „Greifer“ im Dienst der Gestapo 1943-1945. Berlin 2006; Lisa Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten. Benjamin Murmelstein in Wien 1938-1942. Göttingen 2014. 3 Vgl. Evelyn Adunka: Franz Rudolf Bienenfeld. Ein Pionier der Menschenrechtsgesetze. In: David (Wien), Nr.45, Juli 2000, 10-16. 4 Vgl. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bände. Frankfurt am Main 1997, Band 2, S.452-456. 5 Vgl. Thomas Albrich: Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge 1945-1948. Innsbruck 1987; Michael Heindl, Ruth Koblizek: 125 Jahre Rothschildspital. Wien 1998; Christine Oertel. Juden auf der Flucht durch Austria. Wien 1999. 6 Über Emil Sommer vgl. M. Senekowitsch in ÖBL 1815-1950, Band 12 (2005), 412. Schreiben mit seiner Unterschrift, war plötzlich wieder alles da. Nicht nur der Stempel kam mir bekannt vor und erst recht seine gut lesbare Unterschrift. Im Unterschied zu den Ansichtskarten war der Stempel modern. Obwohl er auf einem Schreiben aus dem Jahr 1940 prangte. Und ich wette, dass es derselbe war, den er auch zwanzig Jahre später noch verwendete. Keine GothikLettern, keine Fraktur. Vielleicht heute den Schrifttypen Arial oder Verdana vergleichbar. In diesem zweiseitigen Brief las ich: „Ich habe im Juli 1939 von der Gemeinde und Kreisleitung Liezen den Posten als Photograf in Liezen übertragen bekommen und die Geschäftsräume des früheren Photografen im Haus Nr.12 gemietet.“ Ich musste den Satz mehrmals lesen, bevor ich ihn begriff. Über Ignaz Eisler wusste ich bereits, dass dieser unmittelbar nach der damals so genannten „Reichskristallnacht“ vom neunten auf den zehnten November 1938 gemeinsam mit seinem Bruder Sigmund aufgrund seines „mosaischen“ Religionsbekenntnisses von Liezen nach Dachau deportiert worden war. Aus dem Konzentrationslager Dachau wurde Ignaz Eisler vor Weihnachten unter der Bedingung entlassen, dass er umgehend nach Wien übersiedle. Vorläufig freigelassen auch nur deshalb, weil Ignaz Eislers Ehefrau Antonia, wie das nun plötzlich bedeutsam gewordene Dokument aus Leoben bewies, als Antonie Nebel katholisch getauft war. Wie ihre Eltern und Großeltern. Wäre Antonia Eisler der „dringenden Empfehlung“ der Behörden gefolgt und hätte sich scheiden lassen, wäre Ignaz sozusagen vogelfrei gewesen. Ob damals im Dezember Sepp Baumgartner bereits vor der Tür stand oder seinen Fuß schon in der Tür des Fotoateliers Eisler in Liezen an der heutigen Hauptstraße hatte? Ob Ignaz Eisler an ihn oder an wen er was um welchen Schleuderpreis noch schnell verkaufte, um Anfang Jänner des Jahres 1939 seinen Heimatort zu verlassen und mit wenig Sack und Pack (wie viel konnte, durfte er mitnehmen?) nach Wien zu übersiedeln, konnte ich nicht herausfinden. Eine „Arisierung“, also die Übernahme der Geschäftseinrichtung durch einen nach den Nürnberger Rassegesetzen unbedenklichen „Volksgenossen“, scheint zumindest nicht unmittelbar stattgefunden zu haben. Und ich konnte auch keine Rechtsvorgänge feststellen, die zeigten, dass nach dem Ende des Nationalsozialismus eine solche „Arisierung“ gerichtlich bekämpft September 2015 53