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worden wäre. Herr Baumgartner, der schon lange unter der Erde ist, wie man sagt, war also, nach allem, was ich heute weiß, kein „Ariseur“ im engeren Sinne. Wohl aber muss davon ausgegangen werden, dass er ein Nutznießer davon war, dass Ignaz Eisler die Ausübung seines Berufes in der Heimat untersagt wurde. Ich sage ausdrücklich Heimat, weil damals und auch lange danach fast niemand akzeptieren wollte, dass jener Ort, in dem sich Ignaz Eisler länger aufgehalten hatte als nahezu alle, die damals um ihn herum lebten, sein Zuhause war. Er war fast sechsundsechzig Jahre alt, als er dieser Heimat verwiesen wurde. 1872 in Deutschbrod, heute Havlicküv Brod, einer Stadt in Ostböhmen, die erwa auf halber Strecke zwischen Prag und Brünn gelegen ist, als Untertan des Kaisers in Wien geboren, übersiedelte er im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern und seinem zwei Jahre älteren Bruder Sigmund nach Liezen im obersteirischen Ennstal. Dort wurde sein Vater Emanuel Eisler für die Verbauung der Enns benötigt, die damals das Tal regelmäßig überschwemmte und das Leben vor allem der bäuerlichen Bevölkerung immer wieder erschwerte. Vom Urenkel dieses Emanuel Eisler habe ich vor gar nicht allzu langer Zeit erfahren, dass der Urgroßvater durch seine Fertigkeiten als Tischler zum Vorarbeiter qualifiziert war. Und nach einigen Jahren einen eigenen Betrieb gründete. Und der einzige Tischler in diesem Zweitausendseelendorf blieb. Bis erim Sommer nach Beginn des Ersten Weltkriegs knapp siebenundsechzigjährig verstarb. Aber Emanuel Eisler war ein findiger Mann. Neben seiner Tätigkeit als Tischler hatte er sich auch das Fotografenhandwerk beigebracht. Und wie es damals häufig vorkam, übernahmen die beiden Söhne Sigmund und Ignaz das Handwerk des Vaters. Sigmund wurde Tischler, Ignaz Fotograf. Über Sigmund erzähle ich in einem gesonderten Bericht. Bis zu seiner Vertreibung aus dem Heimatort ist mir Ignaz Eisler wie gesagt nur durch seine Fotos bekannt, unter denen, wenn sie heute bei historischen Verweisen in Gemeindepublikationen publiziert werden, häufig nicht sein Name, sondern schlicht „Stadtchronik“ steht. Auch deshalb ist er aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt — „naturgemäß“, wie Thomas Bernhard auch über solche Umstände oder Verhältnisse schrieb, die nicht durch die Natur, sondern durch die Gesellschaft bedingt sind. In Erfahrung konnte ich über Ignaz Eisler nur noch bringen, dass er sich mit seiner Frau Antonia am 19.Jänner 1939 im fünfzehnten Wiener Gemeindebezirk, Rudolfsheim-Fünfhaus, polizeilich gemeldet hat. In der Wohnung Nummer dreizehn eines Mietshauses am Sechshauser Gürtel Nummer neun. Und dass er mit ihr in Wien überlebt hat. Aber ich weiß nicht wie. Und die amtliche Auskunft sagt auch nur, dass beide in den Jahren danach weiter in dieser Wohnung gelebt haben. Bis Ignaz Eisler am 13.8.1965 im hohen Alter von dreiundneunzig Jahren verstarb. Soweit mir bekannt ist, ohne dass es jemals zu irgendeiner Kontaktaufnahme mit Menschen oder Verwandten in der alten Heimat kam. Gibt es jemanden, der mehr über ihn weiß? Heimatkunde 2: Sigmund Eisler und die jahrzehntelangen Tabus „Ich war seit über 30 Jahren Besitzer der Tischlerei EISLER in Liezen 262, die ich von meinem Vater ererbt hatte und seit dessen Tod allein betrieben habe.“ So begann Herr Sigmund Eisler sein Schreiben an das Landesgericht Graz vom 2. Februar 1948. 54 ZWISCHENWELT „Am 9.November 1938“, so heißt es in diesem Schreiben weiter, „wurde ich durch die Gestapo nach Dachau verbracht.“ Aus dem Konzentrationslager Dachau wurde er nach etwa sechs Wochen unter der Bedingung entlassen, seine Liegenschaft umgehend zu verkaufen. „Mir selbst und meiner Familie wurde eine Anwesenheit und Aufenthalt in Liezen verboten und habe ich mich durch 8 Jahre als über 70 Jahre alter Mann durch meiner Hände Arbeit als Tischler in Wien durchgebracht.“ So könnte eine erste Annäherung an das Leben Sigmund Eislers ihren Lauf nehmen. Aber man sollte die Geschichte früher beginnen. Da führte Sigmund Eisler, noch vor dem Ersten Weltkrieg, gemeinsam mit seinem Vater Emanuel die einzige Tischlerei in Liezen, Obersteiermark. Seit 1875 lebte die Familie in diesem Ort, ab dem fünften Lebensjahr Sigmunds. Als zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts im Zuge des Umbaus und der Erweiterung der Stadtpfarrkirche die Tischlerei Eisler mit den gesamten Einrichtungsarbeiten beauftragt wurde, lag die Hauptlast der Verantwortung auf dem Juniorchef Sigmund Eisler, der an der Seite seines damals bereits über sechzigjährigen Vaters tätig war. Das Tabernakel übrigens durften die Eislers nicht anfertigen. Das war jüdischen Tischlern untersagt, weshalb ein katholischer von auswärts diesen Teil der Arbeiten erledigen musste. Ist es da ein Wunder, frage ich mich heute, dass in den Beiträgen zur Feier des hundertjährigen Jubiläums dieses Kirchenumbaus in Gemeindezeitung und Pfarrbrief der Name Eisler nicht vorkam. Genauer gesagt, ein einziges Mal kam der Name vor, und zwar in dem Satz: „Auf einem Bild des Fotografen Eisler war der Abbruch der östlichen Häuser zu sehen.“ Nach dem Tod des Vaters 1914 führte Sigmund den Betrieb erfolgreich weiter und war insbesondere knapp eineinhalb Jahrzehnte lang nach dem Ersten Weltkrieg ein in Liezen weithin anerkannter Mann. War Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und des Männergesangsvereins und spielte im Streichorchester die Bassgeige. Ein erfolgreicher Bürger des Ortes, verheiratet mit der um vier Jahre jüngeren, von der anderen Seite des Pyhrn, aus Windischgarsten, stammenden Josefine Sechlehner. Aber allmählich kamen die Katastrophen näher. Zunächst nur in Form von vermehrten Anfeindungen, indem der christliche Antisemitismus mehr und mehr rassistisch aufgeladen wurde. Dann auch in Verbindung mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Umstände, die infolge der Weltwirtschaftskrise ab dem Jahr 1929 die Nationalsozialisten erstarken ließen, die nicht nur Sigmund, sondern seine ganze Familie aus allen örtlichen Vereinen und Gemeinschaften, sofern sie „Nichtariern“ nicht ohnehin verschlossen waren, hinausmobbten. Bis die Familie nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich im März 1938 auch wirtschaftlich gravierend getroffen wurde, indem die Ausübung des Gewerbes von Woche zu Woche, von Monat zu Monat immer mehr verunmöglicht wurde. Sodass der Betrieb im Herbst des Jahres lediglich noch einen Gesellen beschäftigen konnte. Gegenüber vier im März und weiteren Gehilfen in den Jahren davor. Aber noch war ein Leben möglich. Und dann die Nacht der reichsweiten Pogrome gegen die Juden im November 1938. In der die Synagogen und Gebetshäuser niedergebrannt wurden. Nicht in diesem kleinen obersteirischen Dorf, dieser Zweitausend-Seelen-Gemeinde, die es damals war. Dort war dieses Datum der Startschuss für die Vertreibung, damit der Bürgermeister wie andere seiner Kollegen im ganzen Land zum darauffolgenden Jahresbeginn nach Graz melden konnte: „Unser Ort ist judenfrei!“