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Sigmund Eisler hat sich in seinem zehn Jahre danach verfassten Schreiben, das diesem Text vorangestellt wurde, wahrscheinlich um einen Tag vertan; er wurde vermutlich nicht am 9., sondern erst am 10. November von der Gestapo verhaftet und nach Dachau deportiert. Spielt das eine Rolle? Aber sicher ist, dass er noch vor seiner Verschleppung seine Tochter Hermine, die alle, weit über die Familie hinaus, Minna nannten, angewiesen hatte, umgehend nach Wien zu fahren. Um Rat zu suchen? Oder einen Unterschlupf? Eine sichere Bleibe? — Jedenfalls existiert seine Postkarte aus Dachau noch, die er wenige Tage nach seiner Ankunft im Konzentrationslager an seine Frau schreiben konnte, mit der Frage, ob Minna gut in Wien angekommen sei. Sicher wusste er, dass schnelles Handeln in dieser Situation das Um und Auf war. Um wenigstens seine Familie in Sicherheit zu bringen. Zumal zu dieser Zeit auch Minnas Ehemann handlungsunfähig war, der als Funktionär des alten Regimes gleich nach dem „Anschluss“ für ein knappes Jahr in Leoben inhaftiert wurde. Jedenfalls konnte Sigmund Eisler nicht ahnen, in einigen Wochen aus Dachau entlassen zu werden. Und wie nützlich sich dann die Erkundungen seiner Tochter in der früheren Hauptstadt des nicht mehr existierenden Staates erweisen würden. Und vor seiner Deportation nach Dachau konnte er noch seinem Sohn Fritz, der vierzehn Jahre jünger war als seine Schwester Minna, eine rechtsgültige Handlungsvollmacht erteilen. Die schon fünf Tage später benötigt wurde. Da hielt man diesem einen Vordruck der „Vermögensverkehrsstelle Wien, Zweigstelle Graz, Landhaus“ unter die Nase. Und ihm blieb nichts anderes übrig, als dieses „Ansuchen um Genehmigung der Veräußerung“ handschriftlich auszufüllen und zu unterschreiben. Sodass man noch heute lesen kann, dass das Tischlereigebäude des Sigmund Eisler samt dem Inhalt der Werkstatt an den in Lassing wohnhaften Tischler Alois Kleewein verkauft werden solle. Auf einem zweiten, offenbar auf den 8. November vordatierten Formular sucht dieser um „Genehmigung der Erwerbung“ an. Ich verzichte auf Details über den geforderten und tatsächlich bezahlten Preis, über Gefälligkeitsgutachten, die Einverleibung von Grundstücken, das Prahlen des „Ariseurs“ gegenüber der Behörde mit seinen Qualitäten als Parteigänger und anderes mehr. Der erzwungene Deal ging rasch über die Bühne wie in unzähligen anderen Fällen auch. Und am Silvestertag des Jahres 1938 trottete ein verzweifelter Sigmund Eisler zur Polizeiwachstube beim Sechshauser Gürtel im fünfzehnten Wiener Bezirk, um sich im selben Haus wie wenig später sein Bruder Ignaz, der die Wohnung Nummer dreizehn bezog, an Nummer zehn gemeinsam mit seiner Frau Josefine polizeilich zu melden. In derselben Wohnung war auch der 1911 in Liezen geborene Fritz Eisler ab 19. Jänner 1939 gemeldet, über den sonst nichts in Erfahrung zu bringen war, außer, dass er bis nach dem Ende des Nationalsozialismus und des Krieges dort gemeldet blieb und im September 1945 in den 9. Bezirk, Alsergrund, übersiedelte, in die Seegasse 5/8. Ab 1947 verliert sich seine Spur. Dass Sigmund Eisler wie sein Bruder Ignaz die Jahre des Nationalsozialismus in Wien überlebt hat, ist einer äußerst seltenen Konstellation geschuldet. Beide waren mit katholisch getauften Frauen verheiratet, die den geforderten „kleinen Ariernachweis“ erbringen konnten, womit ihre Männer in einer sogenannten „geschützten Ehe“ lebten. Und darüber hinaus dienten die beiden Enkel Sigmunds als Soldaten in der Deutschen Wehrmacht, was die Familie zusätzlich schützte. Aber es bleibt im Dunkeln, wie dieses Leben Sigmunds und seiner Frau Josefine konkret ausgeschen hat. Darüber ist nichts bekannt außer jenem eingangs zitierten Satz, wonach er sich in diesen Jahren als „alter Mann durch meiner Hände Arbeit als Tischler in Wien durchgebracht“ habe. Auch sein Enkel weiß nichts Genaueres. Aber was inzwischen in seinem Heimatort mit dem Familieneigentum passierte und wie es danach weiterging, kann man heute anhand einiger Dokumente nachvollziehen. Auch wenn seit jeher wenig Interesse daran bestand, den Schleier des Schweigens, der über diesen Vorgängen nach wie vor schwebt, auch nur ein kleines Stückchen zu lüften. Da ist zunächst die Sache mit dem Wohnhaus. Unmittelbar neben der Tischlerei befand sich damals noch das Wohnhaus, das Sigmund Eisler gehörte. Und kaum war die „Arisierung“ der Tischlerei über die Bühne gegangen, lauerten schon die Begehrlichkeiten einschlägig Interessierter, sich auch dieses Gebäude unter den Nagel zu reißen. Der Erste, der dies versuchte, war ein Rechtsanwalt. Nicht im eigenen Interesse, sondern im Auftrag des vom neuen Regime installierten Bürgermeisters. Rechtsanwalt Dr. Harold Mezler-Andelberg richtete bereits am 26.Februar 1939 eine Anfrage an die Vermögensverkehtsstelle in Graz, ob ein Kauf der Liegenschaft möglich sei, welche Kosten zu erwarten seien, denn in dem Gebäude sollten Gendarmerie und Gesundheitsamt untergebracht werden. Aber bei Wohnhäusern war die Rechtslage nicht so einfach wie bei Geschäften. Die Behörde entschied nicht. Auch nicht beim zweiten Antragsteller, dem im Zusammenhang mit Ignaz Eisler genannten Fotografen Sepp Baumgartner, der Ende des Jahres 1940 die Vermégensverkehrsstelle anflehte: ,,Da ich aber für die Erweiterung meines Geschäftes mehr Platz, sowie für meine Familie eine Wohnung notwendig brauche möchte ich das Haus No 12 gerne käuflich erwerben und wende mich, auf Anraten der hiesigen Gemeinde, an Sie mit der Bitte, mir in dieser Angelegenheit gefl. entgegen zu kommen. Es hängt für mich die Existenzfrage ab, denn mit meinem Geschäft kann ich nicht aus dem Ort gehen und in Liezen ist sonst niergens etwas zu haben.“ (Rechtschreibung wie im Original.) Und der Fotograf baut auch schon im Hinblick auf einen möglichst günstigen Preis vor: Das Gebäude sei „schr Reparaturs bedürftig (...) weil ja niemand etwas richten läßt (...) dieses bald in meinen Besitz zu bekommen, damit die Reparaturen nicht ein Maß annehmen, daß es mir dann finanziel nicht mehr möglich ist, das Haus wieder ordentlich in Stand zu setzen.“ Als dann ein weiteres Jahr später der dritte Versuch — vom „Ariseur“ der Tischlerei, Alois Kleewein — gestartet wurde, hatte Sigmund Eisler, vermutlich über seine Tochter und deren Ehemann, eigene Schritte gesetzt, das Wohnhaus zu retten. Indem er es seinen beiden Enkeln, die nach den Nürnberger Gesetzen als „Vierteljuden“ galten, überschrieb. Also schenkte. Aber dagegen hatte die Vermögensverkehrsstelle etwas. Und gab zwar dem Ansuchen um Genehmigung der Schenkung statt, verfügte aber als Auflage, dass die Liegenschaft innerhalb eines Jahres von den Enkeln verkauft werden müsste. Die Familie Sigmund Eislers war allerdings anwaltlich gut vertreten — durch den Leobner Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Dantine, Vater des in der Zweiten Republik bedeutenden evangelischen Theologen gleichen Namens, in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts Berater des sozialdemokratischen Justizministers Christian Broda bei der Strafrechtsreform und vieles andere, was heute leicht im Internet nachzulesen ist. Und dieser, wie Briefe an seinen Sohn bezeugen, durchaus antisemitische Rechtsanwalt Dantine, der den „Anschluss“ begrüßt hatte, führte im Namen der Enkel Sigmund September 2015 55