OCR
mich ganz klein auf der roten Plüschbank. Wenn ich Glück hatte, vergaßen die Erwachsenen, dass ich da war. „Dass der Hirt sich erschossen hat, weißt du?“ Tante Grete wusste es nicht. „Zuerst die kleine Tochter, dann seine Frau, dann sich selbst, am Tag, bevor die Russen kamen. Das Fräulein Emma war in der Küche. Weil es in dem Chaos keine Leichenbestattung gab, hat sie die Toten in Leintücher eingenäht und auf den Friedhof gefahren in dem alten Leiterwagen. Wie sie das geschafft hat, ist mir ein Rätsel. Die Frau Suchadownik hat gesagt, der Hirt verdient’s nicht, dass du dir das antust, und seine Frau auch nicht, die waren nie gut zu dir, womit sie übrigens völlig recht hatte, aber das Fräulein Emma hat sich nicht abhalten lassen. Mein Mädele, hat sie immer nur gesagt, mein armes Mädele. Und sie kann doch ihr Mädele nicht allein unter lauter fremden Leuten ins Massengrab werfen lassen. Als sie zurückgekommen ist vom Friedhof, ist sie vor der Hausmeisterwohnung stehengeblieben, die Frau Suchadownik hat versucht, sie am Arm zu packen und hineinzuführen, aber sie war wie aus Stein, mit ganz leeren Augen. Die Frau Suchadownik hat gesagt, sie hätte ihr cher den Arm brechen als ihn abbiegen können. Plötzlich haben die Sirenen geheult und gleich darauf gab es einen furchtbaren Krach. Eine Bombe hat das Haus gestreift, es muss die allerletzte Bombe gewesen sein, die auf Wien gefallen ist, zwei halbe Wohnungen hat sie weggerissen, im Hof lag die Frau Maringer tot und auf ihrem Bauch ihr eineinhalb Jahre alter Bub und hat gebriillt, wir haben’s bis hinauf in den zweiten Stock gehört. Die Frau Suchadownik ist hinausgerannt, hat ihn aufgehoben und zum Fräulein Emma gebracht. ‚Da hast‘, hat sie gesagt, und das Fräulein Emma hat die Arme aufgemacht und das Kind an sich gedrückt. Mongoloid ist er, aber ein lieber Bub.“ Jetzt fiel es mir wieder ein. Die Helga ist weggefahren, hatten sie gesagt, als ich fragte. Angelogen hatten sie mich. Sie durften. Erwachsene durften alles. Tante Grete atmete schwer, ihre Augen waren nass. Großvater zog sein großes weißes Taschentuch heraus und tupfte ihre Tränen weg. Sie lächelte. „Grüß Fräulein Emma von mir, ganz herzlich“, sagte Tante Grete. „Wenn sie mich hier entlassen, werde ich sie gleich besuchen. Du weißt ja gar nicht...“ Sie verstummte. Großvater tätschelte ihre Hand. Nach einer Weile stand er auf und brachte ein zweites Stück Torte für sie. Er verfolgte jeden Bissen, den sie in den Mund schob. Ich auch. Wenn sie schluckte, bewegte sich sein Adamsapfel. Großvater ließ den Deckel seiner Taschenuhr aufschnappen. Das Geräusch war sehr laut. „Ich muss ja zurück“, sagte Tante Grete erschrocken. „Die Oberschwester wird sowieso schimpfen, weil ich bestimmt keinen Bissen vom Abendessen runterbringe, und jetzt komm ich auch noch zu spät.“ Auf dem Weg zurück musste sie zweimal stehenbleiben und sich an Großvaters Arm festhalten. Ihr Gesicht war grau, als wir uns am Tor von ihr verabschiedeten. Großvater hörte nicht auf, den Kopf zu schütteln. Ich schaute ihn von der Seite an, und zum ersten Mal sah ich, dass er alt war und müde und nicht der Felsen, für den ich ihn immer gehalten hatte. „Es ist schrecklich“, sagte er leise. „Jetzt, wo alles vorbei ist, holt es sie ein.“ Ich wusste, dass er nicht mit mir sprach, sondern mit sich selbst. Trotzdem fragte ich: Was ist vorbei? Während der Straßenbahnfahrt versuchte er mir zu erklären, dass Tante Grete 58 _ ZWISCHENWELT und ihre Schwester Halbjüdinnen waren, aber weil ihre Schwester mit einem Juden verheiratet war, galt sie als Jüdin und musste flüchten, während Tante Grete in Wien bleiben konnte. Zwar wurde ihr die Wohnung weggenommen, sie musste hungern und frieren, das Schlimmste aber war die Ungewissheit, die Angst um ihre Schwester und ihren Schwager, um viele Freunde. Er selbst hätte seine Nichte auch nur ganz selten besucht, weil er doch dieses Hüftleiden habe und das Gehen furchtbare Schmerzen mache. Heute erst habe er erfahren, dass Fräulein Emma ihr immer wieder etwas gebracht habe, Gott allein wisse, wie sie das geschafft habe, der Hirt sei ja wie ein Geier gewesen, vom Mund müsse sie es sich abgespart haben. Plötzlich hielt er inne. „Das sollte ich dir gar nicht erzählen. Das ist nichts für Kinder, verstehst du?“ „Nein“, sagte ich. Er nickte. „Daran sicht man, dass du ein kluges Kind bist.“ Dass ich ein kluges Kind war, hörte ich meist dann, wenn ich völlig verwirrt war und etwas von mir verlangt wurde, das ich überhaupt nicht verstehen konnte und ganz und gar ungerecht fand. Klug zu sein war eindeutig ein Nachteil und trotzdem auch etwas, auf das ich insgeheim stolz war. Als wir in der Dämmerung auf unser Haus zugingen, blieb Großvater stehen und zeigte auf Fräulein Emmas Fenster. „Schau! So haben die alten Meister Mutter und Kind gemalt.“ Fräulein Emma saß mit Tassilo auf dem Schoß am Klavier, beide angestrahlt von einer Stehlampe. Großvater seufzte. Von nun an machte ich einen großen Bogen um den Leiterwagen im Hof. Als eines von den Mädchen vorschlug, ihn als Kutsche zu verwenden und Tassilo hineinzusetzen, schrie ich sie an und rannte davon. Einmal träumte ich von Helga, die ich fast vergessen hatte, sie gab mir einen Brief für Fräulein Emma, ein Windstoß riss mir den Brief aus der Hand, ich rannte hinter ihm her, sobald ich ihn beinahe erreicht hatte, flog er pfeilschnell in die Höhe. Ich strich um Fräulein Emma herum, suchte ihre Nähe und wich ihr aus. Sie stellte einen Becher Apfelschalentee vor mich hin mit einem Extralöffel Zucker. Die Bombe, die Tassilos Mutter getötet hatte, hatte auch einen Teil von unserem Vorzimmer weggerissen, man musste über schwankende Bretter in die Wohnung balancieren, es gab keine Eingangstüre, es war auch untertags fast völlig dunkel. Wenn ich aus einem hellen Zimmer trat, sah ich viele offene feurige Mäuler in der Finsternis, die zuzubeißen drohten. Ein Madchen hatte erzählt von Kellern, in denen man Menschen schlachte, ihr Fleisch würde am Schwarzmarkt im Resselpark verkauft. Die Keller seien mit Kreidezeichen markiert. Ich müsse ihr nicht glauben, ich könne selbst schauen, wenn ich meinen Vater zu Hausbesuchen begleitete. Und wie ich schaute! An vielen Kellertüren gab es Kreidezeichen. Ihre Tante, sagte sie, habe zum Geburtstag ihrer Cousine Schnitzelfleisch gekauft, das sei ihr komisch vorgekommen, da sei sie zum Marktamt gegangen, und die hätten es ihr gesagt: Das ist Menschenfleisch! Alle ihre Schauergeschichten spielten an einem ganz bestimmten Tag, an einer ganz bestimmten Adresse, waren Menschen widerfahren, die sie kannte und die ich angeblich fragen konnte. Ich fragte nicht. Einmal wartete ich unendlich lange in einem finsteren Stiegenhaus, als ein Mann mit einem Eimer die Treppe herunterkam, aus dem er etwas feucht Aufklatschendes in den Mistkübel leerte. Kurz darauf wiederholte sich der Vorgang. Ich war überzeugt, dass er meinen Vater geschlachtet hatte und die