OCR
Wahrscheinlich hat er sich einen kleinen Hitlerjungen gewünscht. Wissen Sie, wenn man klein ist und man hat Schmerzen, dann glaubt man, das dauert ewig. Mit der Zeit lernt man, dass Schmerzen und Krankheiten vorübergehen. Dann sagt man sich: Wenn ich wieder gesund bin, dann mach ich das und das. Dann spiel ich wieder Fußball und hau die von der American School sieben zu null in die Pfanne. Aber dann, irgendwie durch das Verhalten von meinem Vater eigentlich, ist mir das langsam klar geworden, dass es das nicht spielen wird. Irgend sowas hab ich nämlich zu meinem Vater gesagt: Wenn ich wieder gesund bin, dann trainierst du mich, und dann schieß ich gegen die American School sieben Tore. Und er hat die Achseln gezuckt und sich weggedreht. Verstehen Sie das? MAUTNER: Ich glaube schon. BERGER: Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und — wie ist das noch gegangen? Flink wie Windhunde. War ich nicht zäh wie Leder? Hab ich nicht gekämpft, um wieder hochzukommen? Um überhaupt aufrecht sitzen zu können. Ich hätte eigentlich recht stolz auf mich sein können, aber wegen ihm hab ich mich als Krüppel gefühlt. Krüppel können keine Hitlerjungen sein! MAUTNER: Haben Sie damals schon von seiner Vergangenheit gewusst? BERGER: Nicht viel. Ich hab gewusst, dass er irgendwie verfolgt wird, dass er irgendwie in Gefahr ist. Ich habe mir vorgestellt, wie sie mich verhören und mir mit Folter drohen, aber ich würde nichts sagen. MAUTNER: Herr Berger, ich nehme an, dass Ihr Vater nicht mehr lebt? BERGER: Er ist 1992 gestorben. Mit 80 Jahren. MAUTNER: Wäre es nicht - angebracht — mit Ihrem Bericht an die Öffentlichkeit zu gehen? BERGER: Aber ich weiß doch gar nichts! Er hat mir nichts erzählt! MAUTNER: Na ja, allein schon der Bericht über seinen Verbleib nach dem Krieg wire doch ein — ein weiterer Mosaikstein in der Geschichte des Holocaust. MIRIAM: Und was wiirde das bringen? MAUTNER: Ein Fragezeichen weniger. MIRIAM: Wenn er gar nichts darüber weiß, was mein Großvater in diesem Treblinka getan oder nicht getan hat? Wozu soll das gut sein? MAUTNER: Wir würden von einem mehr wissen, der nach all dem imstande war, ein normales Leben zu führen, zumindest nach außen hin. Er hat sich nicht aus Reue das Leben genommen, er ist nicht aus Verzweiflung verrückt geworden oder als Drogensüchtiger in der Gosse gelandet. MIRIAM: Und wir, seine Familie? Wie stehen wir dann da? Ich will jedenfalls nicht mit diesem Makel herumlaufen müssen. Dass jeder mit dem Finger auf mich zeigt! MAUTNER (zu Berger): Und Sie? Wie schen Sie das? BERGER: Ich weiß nicht. Ein so — so lückenhafter Bericht, wie ich ihn geben könnte, der würde doch nur zu allerhand — Vermutungen — Spekulationen führen. MIRIAM: Uns haben sie gequält mit dem Ganzen. Die ganze vierte Klasse nichts als Holocaust, Holocaust, Holocaust. Und in der siebenten wieder. Unser Lehrer, das war so einer mit Bart und Pferdeschwanz, immer so auf kameradschaftlich, wir sollten du sagen zu ihm. Na, er war ganz nett, er hat nicht streng geprüft, aber immer ist es nur um die Juden gegangen. Und um die Mitschuld der Österreicher. Als ob ich etwas dafür könnte. Als ob nur Juden im Krieg umgekommen wären. MAUTNER: Ich fang jetzt sicher nicht an zu streiten, wer mehr gelitten hat. Die Frontsoldaten haben sicher gelitten - manche haben auch Verbrechen begangen. Aber wenn sie nicht wollen, dass ihre Kinder und Enkel wieder leiden müssen, dann müssen sie sich klarmachen, dass an ihren Leiden das Naziregime schuld ist. MIRIAM: Aber unser Geschichtelehrer hat für sie keine Gefühle gehabt, nur für die Juden. Wir haben die Filme schon nicht mehr sehen können. BERGER (schüttelt den Kopf): Da haben Sie die heutige Jugend. (Zu Miriam:) Was machst du denn immer mit dem Handy? Das geht mir so auf die Nerven! MAUTNER: Meine Mutter stammt aus einer alten Favoritner Arbeiterfamilie mit böhmischen Wurzeln. MIRIAM: Dann sind Sie also Halbjude. MAUTNER: Nein, ich bin Halbnichtjude. MIRIAM: Was soll das sein? MAUTNER: Ja, was soll das sein? Was ist ein ganzer Nichtjude? Das weiß auch kein Mensch. Wenn man sie fragt: „Was sind Sie?“, würden Sie sagen: „Ich bin Nichtjude!“? Seit ich gehört habe, dass ich Halbjude sein soll, habe ich mich gefragt, was ist dann die andere Hälfte? (Geste: „Keine Ahnung“.) Wenn die eine Hälfte ein Jud ist, ist die andere Hälfte ch uninteressant. Das hat in mir so eigenartiges Ungleichgewicht erzeugt, wie ein kürzerer Fuß. Also hab ich vor einigen Jahren beschlossen: Ich bin Halbnichtjude. Da weiß ich wenigstens, was meine andere Hälfte ist. MIRIAM schüttelt den Kopf. BERGER: Ich find das gut: Halbnichtjude. Da scheint doch der typische jüdische Humor durch. Der ist uns auch verloren gegangen. Und die ganzen jüdischen Künstler und Wissenschafter! BERGER: Man darf das nicht vergessen! Das ist einfach eine moralische Verpflichtung. MIRIAM: Und was soll das bringen? Ein Haufen Sadisten hat sich ausgetobt. Traurig! Um einen Wahnsinnigen an der Macht zu halten. Schlimm! Aber was hat das mit mir zu tun? BERGER: Das muss sich jeder Mensch selber fragen: Was hat das mit mir zu tun? MIRIAM: In einer Geschichtsstunde hat der Prof. gesagt, wir sollen alle aufstehen. Dann hat er gesagt: Wer von euch ganz sicher ist, dass er damals kein Nazi geworden wäre, der soll sich setzen. Alle haben sich hingesetzt. Auch die, die vorher im Bus Witze über die Gaskammern gerissen haben. Ich bin aus der Klasse gegangen. Ich habe gesagt: „Ich bleibe nicht stehen und ich setze mich nicht hin, auf so eine Frage antworte ich nicht!“, und bin aus der Klasse gegangen. MAUTNER: Das hätte ich vielleicht auch gemacht. Wer kann so eine Frage schon realistisch beantworten? Martin Auer wurde 1951 in Wien geboren. Neben dem Studium der Germanistik und Geschichte arbeitete er von 1971 bis 1977 als Schauspieler, Dramaturg und Musiker am „Theater im Künstlerhaus“. Danach gründete er die Band „Dreschflegel‘, später spielte er bei der Band „Regenpfeifer“ mit. Seit 1986 ist er Schrifisteller, Autor von über vierzig Büchern, davon ca. zwei Drittel für Kinder. Auferdem ist er Schauspieler, Liedermacher, Kabarettist und Übersetzer. Initiator vom Ersten Wiener Protestwanderweg (http://www. protestwanderweg.atl) und des Projekts „Lössland“ in Niederhollabrunn, dem Audiowanderweg mit Gedichten von Theodor Kramer. September 2015 69