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Tanja Dückers „Blick aus dem Berliner Exil“ Mir sitzt ein schmaler, kleiner Mann mit einer schwarzen Lederkappe im Thälmann-Stil gegenüber. Herr al-Azzawi berichtet aus seinem bewegten Leben. Er wurde 1940 in Kirkuk, der berühmtem Erdölstadt im nördlichen Irak, geboren. In den 1970er-Jahren war er als regimekritischer Schriftsteller Saddam Husseins BaathPartei ein Dorn im Auge. Über diese Zeit sagt er: „Die einzige Möglichkeit für Schriftsteller war damals in den 1970er-Jahren, Propaganda zu produzieren. Für mich war das nichts.“ Schon seine Mutter hatte ihn gewarnt und ihm gesagt, das Einzige, was arabischsprachige Schriftsteller tun könnten, wäre „Lobeshymnen auf diesen oder jenen Scheich, Gouverneur oder König“ zu dichten. Fadhil al-Azzawi hatte auch die Gelegenheit, Theaterstücke von Saddam Hussein, der sich bisweilen zum Dramatiker berufen fühlte, zu schen. Darüber sagt er: „Oh, sie sind schrecklich. Sehr naiv. Nee, nee, er konnte nicht schreiben.“ Herr al-Azzawi verbrachte zwei Jahre im Gefängnis; in der Haft wurde er gefoltert. 1977 — mitten im Kalten Krieg — gelang es ihm über den irakischen Journalistenverband, der mit dem Journalistenverband der DDR Beziehungen pflegte, nach Leipzig auszureisen. Einfach war sein Leben dort nicht. Während damals eine Wohnung üblicherweise 150 bis 200 Mark kostete, musste er 1500 Mark Miete zahlen. Aber er blieb. In Leipzig promovierte er in Journalistik. Und er nutzte die Reisefreiheit, die ihm als Auslandskorrespondent zustand. Später übersiedelte er nach Berlin. Dort übersetzte er unter anderem Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ins Arabische. Wann er denn mal wieder in Kirkuk gewesen sei, möchte ich wissen. Gar nicht, lautet die Antwort. Fadhil al-Azzawi, einer der bedeutendsten auf Arabisch schreibenden Gegenwartsautoren, zuckt die Schultern: „Ich telefoniere ab und zu mit meinen Schwestern“, sagt er. „Sie leben immer noch dort.“ So lange Hussein regierte, wäre es lebensgefährlich für ihn gewesen, in den Irak zurückzukehren. Einmal war er in Erbil und Suleymanyiah, in den von Kurden kontrollierten Städten im Norden. Im Moment sei es auch sehr schwierig, nach Kirkuk zu reisen: Der IS besetzt schon seit Juni 2014 große Gebiete in der Provinz Kirkuk, darunter die arabisch-sunnitische Stadt Hawija im Südwesten. Die Stadt Kirkuk sei im Moment, so al-Azzawi, nicht unmittelbar von einem Angriff bedroht, da die Truppen des IS derzeit an vielen Fronten gleichzeitig in Kampfhandlungen involviert sind, insbesondere in Tikrit, Diyala und Ramadi, und dadurch etwas geschwächt seien. „Es gibt zur Zeit keine großen Kämpfe um die Stadt Kirkuk. Beide Seiten behalten ihre Positionen, aber der Krieg kann jederzeit beginnen. Vieles hängt von den Erfolgen und Niederlagen an anderen Fronten ab. Mit den IS-Truppen, die nur wenige Kilometer entfernt sind, leben die Einwohner der Stadt in Angst und unter einem starken psychischen und politischen Druck“, erklärt der Schriftsteller. Die Sorge um den IS in der Provinz Kirkuk lässt ihn nicht los: „Die Schlacht um Kirkuk könnte unvorhergesehene Folgen haben. Sollte der IS die Stadt besetzen, würden Hunderttausende von Christen und Kurden nach Kurdistan fliehen. Aber so ein Alptraum wird die ganze Lage radikal verändern. Das Problem liegt darin, dass die 70 ZWISCHENWELT Einwohner der Stadt, die Sunniten sind, die Präsenz der schiitischen Milizen in ihrer Stadt ablehnen. Diese Milizen mit ihren iranischen Generälen, die sie steuern und militärisch führen, begingen in verschiedenen Gebieten unzählige Verbrechen gegen die sunnitische Zivilbevölkerung. Nach einer siegreichen Schlacht in der Provinz Diyala enthaupteten sie 72 Bauern, zerstörten ihre Häuser und Moscheen und verboten den Vertriebenen die Rückkehr in ihre Dörfer.“ Mit der Rolle der Amerikaner ist Fadhil al-Azzawi daher wenig zufrieden: „Der größte Fehler der Amerikaner nach der Besetzung des Irak war, dass sie mit der Religion pokerten. Anstatt die modernen und demokratischen Kräfte im Irak zu unterstützen, brachten sie fanatische schiitische Milizen an die Macht und spalteten damit die Gesellschaft. Hunderttausende wurden ermordet oder mussten das Land verlassen. Der IS selbst verkörpert in seinem Wesen die blutige sunnitische Antwort auf die schütische Unterdrückung der Sunniten: Zwei Monster, die im Namen der Religion gegeneinander kämpfen. Um den Krieg gegen den Terror zu gewinnen, müssen wir die Politik von der Religion entfernen und Allah von den Ketten der Religionshändler befreien.“ Herrn al-Azzawi deprimiert besonders, dass die Stadt, die so lange als „Modell der Modernität für einen demokratischen und multikulturellen Irak“ galt, durch eine Herrschaft von religiösen Fanatikern ins Mittelalter zurückgeworfen und wurde ihren „säkularen Geist“ verlieren würde. Für den IS, so al-Azzawi, befände sich der „goldene Gipfel der Zivilisation irgendwo in der Vergangenheit“. Jetzt fällt ihm noch etwas ein, was man ihm kürzlich aus seiner Heimat erzählt hat: „Der Lieblingsslogan der IS-Ierroristen, den sie wiederholt laut rufen, geht so: Einer schreit ‚Der islamische Staat!‘. Die anderen antworten im Chor mit einer Stimme ‚wird fortdauern‘.“ Fadhil al-Azzawi schüttelt langsam den Kopf und meint: „Es scheint, dass sie nicht mal fühlen oder begreifen, wie viel Zweifel und Unsicherheit in ihrem eignen Slogan liegt. Die islamische Geschichte selbst zeigt, dass die Terrorregime normalerweise eine kurze Weile dauern, aber niemals fortdauern können. Und der IS wird keine Ausnahme sein.“ Seiner Meinung nach wird der terroristische Angriff auf Kirkuk am Ende scheitern, aber „der Siegespreis könnte zu hoch sein“. Denn die amerikanische Strategie, die Stellungen des Feindes aus der Luft zu bombardieren, verwandelt viele Städte, wie beispielsweise Kobani, in Ruinen. „Die Einwohner von Kirkuk fürchten nicht nur den Vormarsch der islamischen Killerherden, sondern auch die amerikanischen Bomben, die ihre Stadt vernichten können. Sie stehen zwischen den Feuern und hoffen schweigend auf ein baldiges Ende dieses satanischen Fluchs“, so der Schriftsteller. Aber er habe begriffen, dass man sich nicht nur an eine Heimat klammern kann. In Berlin — er lebt mit seiner Frau Salima Salih im Ostteil der Stadt — fühlt er sich wohl. Salima Salih ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie hat zehn eigene Bücher veröffentlicht und über zwanzig Werke aus dem Deutschen ins Arabische übertragen, darunter Bücher von Christa Wolf („Medea. Stimmen“, „Kassandra“), Ingeborg Bachmann und Ulla Berkewicz.