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Der Begriff Heimat beschäftigt Fadhil al-Azzawi sehr: „Ich habe irgendwann angefangen, die ganze Welt — nein, die Orte, an denen ich mich frei bewegen und schreiben kann, was ich möchte - als meine Heimat zu betrachten. Es gibt viele wunderbare Menschen an verschiedenen Orten,“ sagt er. Und über den Irak: „Es gibt 22 arabische Länder, ich werde zu Lesungen nach Ägypten und Jordanien und anderswohin eingeladen — dann fahre ich eben nicht in den Irak.“ Nicht, dass die neuen Machthaber nicht versucht hätten, ihn einzuladen. Aber al-Azzawi möchte nicht für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert werden, Seite an Seite mit Politikern fotografiert werden. Also hat er abgelehnt. In der arabischsprachigen Welt ist er ein Star. Seine Bücher verkaufen sich sehr gut — und auch in den USA wird er viel gelesen. Sein neuer Roman „Der Letzte der Engel“ ging dort mit einer Startauflage von 200.000 Stück vom Lager. „Der Letzte der Engel“ wurde im Jahr 2014 von Dörlemann herausgebracht. Es ist schwer nachvollziehbar, dass 22 Jahre vergehen mussten, bis dieser Roman, den al-Azzawi als sein bisheriges Hauptwerk bezeichnet, auf Deutsch erschienen ist. Es ist sicher eines der wichtigsten Bücher über die arabischsprachige Welt und gleichzeitig in seiner Skurrilität, seinem ornamentalen Erfindungsreichtum, seiner sprachlichen Eleganz und Lust am Fabulieren auch stilistisch ein Meisterwerk. Am Beispiel seiner unterschiedlichen Protagonisten erzählt al-Azzawi die Geschichte des Chukor-Viertels in Kirkuk. Auch wenn man noch nie in Kirkurk gewesen ist, steht dieses Viertel bald in leuchtenden Farben vor einem. Vordergründig spielt die Handlung in den späten 1950er-Jahren, doch die vielen Parallelen zur Gegenwart machen den Roman besonders interessant. Scheinbar realistisch werden verschiedene Realitätsebenen, auch Träume und Halluzinationen, so eng miteinander verwoben, dass der Leser zum Teil nicht mehr weiß, auf welcher Ebene nun eine Utopie (nach mehr Gerechtigkeit - kurz wird eine Episode des Chukor-Viertels ohne Geldverkehr beschrieben), eine Rückblende oder ein Albtraum beschrieben wird. Am Ende siegt die Freiheit, auch wenn Burhan Abdallah, eingangs ein prophetisch begabtes Kind, nun ein alter Heimkehrer, dafür sein Leben lassen muss. In dem Moment, in dem er fürchtet, von „Soldaten mit gezückten Bajonetten“ erdolcht zu werden, „spürte er, wie sich seine Hände in Schwingen verwandelten. Er schlug damit in die Luft, so dass er stieg und stieg, hoch und höher, bis er in den Tiefen des Alls verschwand“. Wie Fadhil al-Azzawi verrät, hat er vieles, was in seinem Roman beschrieben wird, selbst erlebt: den verrückten Onkel, der in Russland die im Ersten Weltkrieg verschollenen Verwandten suchte, und Kinderspiele wie einen an einem Faden befestigten Geldschein auf die Straße legen, bis sich ein alter Jude bückt, um ihn aufzuheben — dann wird der Schein von den im Gebüsch lauernden Kindern weggezogen. Ja, ein alter Jude. Erst einmal schluckt man, wenn man das liest. Dann aber muss man lachen: Turkmenen, assyrische und aramäische Christen, Kurden, sunnitische und schiitische Araber und Juden lebten in der multiethnischen, multikulturellen Stadt Kirkuk zusammen. Und über jeden bestehen Vorurteile, jeder bekommt sein Fett ab. Doch als Fatima, die Frau von Hamid Nylon, einem der Helden aus dem Roman, lange Zeit kein Kind empfangen kann, wird sie zu Juden, Christen und turkmenischen Muslimen im Viertel geschickt, um sich jeweils mit einem Wundermittel der Nachbarn helfen zu lassen. Das multiethnische Miteinander im Kontrast zur Gegenwart kann man als einen roten Faden, das Hauptthema in diesem burlesken, vielstimmigen (Un-)Sittengemälde verstehen. Nebenbei erwähnt al-Azzawi, dass er als Kind Turkmenisch gelernt habe. „Als ich letztens in Istanbul aufeinem Poesiefestival war, konnte ich mich mit den Türken unterhalten und sogar ein Gedicht von mir auf Türkisch vortragen“, erzählt er mit Freude. Noch in Bagdad hat er englische Literatur studiert und darin promoviert. Als ich auf die fragwürdige Rolle der Briten (Mesopotamien war nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs nach dem Ende des 1. Weltkriegs britisches Mandat, erst 1959 verließen die letzten britischen Truppen das Land) zu sprechen komme, lächelt er vorsichtig über meinen Eifer. Ich äußere die Ansicht, es sei möglicherweise ein Fehler der Briten gewesen, die unterschiedlichen osmanischen Provinzen — Mossul (kurdisch), Bagdad (sunnitisch), Basra im Süden (schiitisch) — in einen neuen Einheitsstaat, der so nie existiert hat, zu zwängen. Herr al-Azzawi weist nun darauf hin, dass in Städten wie Kirkuk die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen seit 1400 Jahren relativ friedlich zusammengelebt hätten. Überhaupt scheinen die Zeiträume, in denen Herr al-Azzawi denkt, aufderen Fundament er aufgewachsen ist, tiefin die Vergangenheit zu reichen: Erbil, 200 Kilometer weiter nordwestlich als Kirkuk, ist mit 7000 Jahren menschlicher Besiedlung eine der ältesten durchgehend bewohnten Städte überhaupt. Wenn man mit Fadhil al-Azzawi spricht, kommt man nicht umhin, traurig zu werden. Der Irak, den wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten, mit Blick auf die drei Golfkriege seit 1980, aus den Nachrichten kennen, ist ein von Gewalt und Terror geprägter Jailed state. Und hier tut sich eine Kultur auf, die in der Tagespolitik nie Erwähnung findet. Nur einmal glänzte etwas davon auf: In dem Bericht über die Plünderung des Bagdader Nationalmuseums, die von Anthropologen, Historikern und Kunstkennern aus aller Welt beklagt wurde. Vielleicht hat das negative Bild des Iraks dazu beigetragen, dass sich hierzulande so lange niemand für Herrn al-Azzawis fünfhundertseitiges Meisterwerk interessiert hat? Aber Herr al-Azzawi will sich gar nicht lange mit dieser müßigen Frage aufhalten. Ihn beschäftigt etwas anderes: „Ich könnte ja mal über meine Zeit in der DDR schreiben!“ Ich erinnere ihn an das traurig-kuriose Buch „An Iraqi in Paris“ des in Frankreich lebenden Exilirakers Samuel Shimon - eines Freundes von al-Azzawi, der die Zeitschrift Banapal in Paris herausgibt. Fadhil al-Azzawi ist Mitherausgeber. „Ja, ein Iraki in Berlin“, räsoniert er. „Ich habe so viel hier erlebt!“ In einem anderen Interview hat er einmal von „den alten Männern in der DDR, die von der Macht nicht lassen konnten und ihr Land terrorisierten“, gesprochen, „auch mit ihrem intellektuell — wie ich finde - niedrigen Niveau“. Liebäugelte er denn damals mit dem Sozialismus? In „Der Letzte der Engel“ gründet Hamid Nylon (diesen Spitznamen bekam er verpasst, weil ihm unterstellt wurde, der leichtfertigen Gattin des britischen Öl-Magnaten Herrn Tissow — nebenbei bemerkt Hamids Arbeitgeber — nachzustellen) eine Gewerkschaft, versucht sich als Kommunist. „Da ist auch wieder einiges selbst Erlebtes dran“, verrät al-Azzawi. Und ja, er habe auch ein Parteibuch besessen. Er war damals 18 Jahre alt und lebte im Königreich Irak unter dem von den Briten eingesetzten König Faisal I. Doch schon mit 22 Jahren — einem Alter, in dem andere erst anfangen, sich politisch zu engagieren — brach al-Azzawi wieder mit dem Kommunismus, ihm gefielen die Entwicklungen in der Sowjetunion nicht. Und: „Ich war dafür nicht gemacht“. In „Der Letzte der Engel“ beschreibt er augenzwinkernd, wie viele Kommunisten nur an der Revolution September 2015 71