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teilnahmen , wenn sie von Hamid bestochen wurden. Ob er sich denn seitdem eine Ersatzreligion gesucht hätte? Und überhaupt, ist er religiös? Fadhil al-Azzawi lächelt wieder milde auf diese Weise, als hätte ich ihn etwas ganz Abwegiges gefragt. Dann schüttelt er entschieden den Kopf: „Nein, nicht doch, ich betrachte Religion als etwas Historisches.“ Dann beginnt er zu lachen. „Mein Sohn, er ist jetzt 35 Jahre alt, hat mich letztens am Telefon gefragt: ‚Papa, Selim Özdogan Wieso Heimat, ich wohne zur Miete Auszug aus einem Roman in Arbeit Alle haben mir davon erzählt: Sultanahmet, Hagiasophia, Süleymaniye, die Gebetsrufe, die bärtigen Männer, aber ich habe keine einzige Moschee geschen. Wie viele Male (tausende Male) bin ich nun schon die Fußgängerzone im Zentrum, die Istiklal Caddesi, hoch- und runtergelaufen, bin aufs Geratewohl durch die Seitenstraßen gegangen, durch die kleinen, verwinkelten Gassen, durch die Passagen, aber ich habe keine einzige Moschee gesehen. Ich sah nicht nur Bars und Clubs und Cafes, in denen man Shisha rauchen konnte, sondern jede Menge Kirchen. Griechisch-orthodox, evangelisch, katholisch, gotisch, ich kenne mich nicht damit aus, griechisch-römisch, Freistil, Schmetterling und wie das alles heißt. Überall, an jeder Ecke eine Kirche. Aber keine einzige Moschee. Dafür schaltet sich mit Einbruch der Dunkelheit die Weihnachtsbeleuchtung ein. Über die gesamte Länge der Istiklal Weihnachtsbeleuchtung, Sterne, Schneeflocken, Tannengrün. Während ich nach Moscheen und dem Islam Ausschau halte, geht die Weihnachtsbeleuchtung an. Mitten im Juli. In Deutschland glauben Menschen wie meine Mutter ja, dass die Welt bald untergeht, nur weil es ab September Spekulatius und Lebkuchen im Supermarkt gibt. Ich frage einen der Sesamkringelverkäufer, ab wann die Weihnachtsbeleuchtung hier brennt. Er sieht mich verwundert an. Ab wann? Ja, wann im Jahr fängt das an? Im April, im Mai, im Juni, wann wird die Beleuchtung eingeschaltet? Die brennt jede Nacht, sagt er, das ganze Jahr über. Wir sind ja keine Christen. Wir sind keine Christen, wiederhole ich. Ja, sagt er, wenn wir Christen wären, dann gäbe es eine Zeit dafür, so ist das mit der Religion und den Festen, es gibt für alles eine Zeit. Nur dem Verrückten ist jeder Tag ein Fest. Wir sind keine Christen, wiederhole ich, aber warum stehen dann hier überall Kirchen herum? Seit Stunden suche ich eine Moschee, aber ich finde keine einzige. Der Mann lacht. Die haben wir gebaut, damit die Leuchtreklame sich nicht so allein fühlt, sagt er. Ich nicke. Die Kirchen schen aber älter aus als die Leuchtreklame, sage ich. Der Mann lacht, als hätte ich einen Witz gemacht. 72 ZWISCHENWELT sag mal, was sind wir denn eigentlich? Sunniten oder Schiiten?“ Fadhil al-Azzawi grinst. „Wir wussten es beide nicht.“ Dann fügt er noch hinzu: „Ich habe dann mal nachgeschaut ...“ Fadhil al-Azzawi: Der Letzte der Engel. Roman. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Zürich: Doerlemann Verlag 2014. 520 5. € 24,90 Wir sind keine Christen, wiederhole ich. Und wenn die Christen jeden Tag ein Schaf schlachten würden oder jeden Tag fasten würden ... ... dann wären sie keine Moslems, beendet er meinen Satz. Du hast es verstanden, mein Junge. Alles hat seine Zeit. Die Christen kaufen mehr ein, wenn die Weihnachtsbeleuchtung an ist, hier auf der Istiklal wird das ganze Jahr viel verkauft. Ich nicke. Zum Opferfest wird viel Fleisch konsumiert. Das könnte man ja auch in Deutschland nutzen, um den Konsum anzukurblen. Wenn man es das ganze Jahr über tut, wird man ja nicht gleich Moslem davon. Und selbst Veganern müsste das gefallen, weil das Fleisch ja auch unter den Armen und Hungrigen verteilt werden soll, und das kann man ja nicht schlecht finden. Gut, jeden Tag wäre übertrieben, aber man könnte doch ruhig einmal die Woche Opferfest feiern. So wie die Grünen diesen vegetarischen Tag in den Kantinen vorgeschlagen haben. Das kam nicht gut an. Aber einmal die Woche noch mehr Fleisch ist ja etwas anderes. Man muss das Lamm oder Schaf, die Ziege oder die Kuh ja nicht selber schlachten. Ein Schwein geht natürlich auch. Schließlich sind wir keine Moslems. Der Sesamkringelverkäufer sieht mich an. Schließlich sind wir keine Moslems? sagt er aufgebracht. Keine Christen, meinte ich. Ich verabschiede mich und gehe weiter. Komisch, dass ich bei dem Gedanken an das Opferfest Lust auf Schokolade bekommen habe. Ich finde keine Moscheen, aber kleine Läden findet man an jeder Ecke. Ich kaufe eine dunkle, türkische Schokolade. Wenn ich groß bin, möchte ich mal Nachtischler werden und einen Schokoladen bauen. Ich mag Schokolade. Nicht Zucker und Pflanzenfett, ich mag Schokolade, deswegen steht auf der Packung Kakaoanteil 70%. Ich stecke mir ein Stück in den Mund. Es schmeckt nicht. Die Schokolade ist nicht schlecht, sie schmeckt nur nicht. Manche Sachen schmecken bei mir nicht, aber diese Schokolade schmeckt bei allen nicht, da bin ich mir sicher. Dunkle Schokolade kauft man doch wegen des Geschmacks. Es ist ein wenig so, als würde auf der Flasche Champagner stehen, aber es schmeckt nach einem Sekt, der einem die Zähne zusammenklebt, dass man nicht mal mehr betrunken den Mund aufkriegt, um Unsinn zu reden. Ich werfe die Tafel weg und schaue auf mein Handy. Noch eine halbe Stunde bis zu meiner Verabredung mit meinem Vater vor dem Starbucks auf der Istiklal. Vielleicht liegt es an der Schokolade, vielleicht liegt es an den Religionen, den Kirchen, den fehlenden Moscheen, der immerwährenden Weihnachtsbeleuchtung, der Tatsache, dass man in Deutschland Halloween feiert, aber kein Opferfest, auf jeden Fall verlaufe ich