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mich heillos. Als ich endlich den Starbucks finde, bin ich zwanzig Minuten zu spät. Mein Vater ist nicht da. Ich habe ihn seit neun Jahren nicht gesehen, würde ihn aber sofort erkennen. Ich bekomme eine SMS. Von meinem Vater. Er schreibt, dass er über vierzig Minuten auf mich gewartet hat, dass er sein Handy im Auto vergessen hatte und jetzt auf dem Heimweg ist. Ob mit mir alles stimme. Ich schaue auf die Uhr des Handys. Ich schaue schr lange auf die Uhr des Handys. Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort, sagt meine Mutter immer. Und dass die Dinge ihr Geheimnis von selbst enthüllen, wenn man nur geduldig und ruhig ist. Schläft ein Lied in allen Dingen. Schläft. Ich habe es verpennt. Ich habe es verpennt, die Uhr umzustellen. Isa war gestern nicht zu Hause, ich habe den Schlüssel bei den Nachbarn geholt. Jetzt höre ich, wie er aufschließt, stehe auf und sche mich im Flur einem fast zwei Meter großen Mann gegenüber. Er ist dünn, mit einem hageren Gesicht, schulterlangen, leicht gewellten braunen Haaren, die in der Mitte gescheitelt sind und hat einen kurzen, aber ungepflegten Vollbart. Wir geben uns die Hand. Krishna Mustafa, sage ich. Isa, sagt er, hocherfreut. Willkommen in Istanbul, willkommen in der Türkei. Ich hoffe, du hast gut hierhergefunden. Ja, danke. Es war kein Problem. Es war leichter als eine Moschee zu finden. Tut mir leid, ich war wie gesagt in Bursa auf einer Hochzeit und konnte nicht hier sein. Krishna Mustafa, was ist das fiir ein Name? Wir setzen uns ins Wohnzimmer und ich erzähle ihm die Geschichte, die ich immer erzähle. Sie gehört zum Kennenlernen dazu wie die Komplimente über die Sprachkenntnisse. Ich weiß nicht, ob man die hier auch macht, also sage ich selber nichts. Dein Türkisch ist recht ordentlich, dafür dass du so lange nicht mehr hier warst, sagt Isa. Danke, gleichfalls, sage ich. Und was machst du jetzt hier?, möchte er wissen. Emre hat nur erzählt, dass du die Türkei besser kennenlernen möchtest. Emre ist mein Cousin und wohnt seit gestern in meinem WGZimmer in Freiburg, dafür habe ich sein Zimmer hier. Nein, nicht die Türkei, sage ich. Ich möchte mich besser kennenlernen. Meine Wurzeln. Ich bin gekommen, weil ich meine Identität finden möchte. Ich denke an Laura und wie sie gesagt hat: Du machst mich wahnsinnig, Krishna, du hast deine Identität noch nicht gefunden, du bist 24, aber hast noch nicht mal angefangen dich selbst zu suchen. Du fährst nie in die Türkei, du hast keine Meinung zu deinem Verhältnis zu deinem Vater oder zu deinen Wurzeln, du willst überhaupt nicht herausbekommen, wo du stehst. Du musst doch mal eine Perspektive entwickeln, einen Horizont. Ich kann mit so jemandem einfach nicht zusammenbleiben, das musst du verstehen. Deine Identität? Isa lacht, als hätte ich einen Witz gemacht. Ich habe auch gelacht, als Laura zu mir gesagt hat, ich hätte meine Identität noch nicht gefunden. Weil ich sie ja nie irgendwo verloren hatte. Ich habe gelacht, und sie hat mich verlassen. Und jetzt möchtest du von den Türken etwas über Türken erfahren? Ja. Isa nickt, verschränkt die Finger und reibt die Daumenballen aneinander. Du willst etwas über die Türkei lernen, über deine Wurzeln, deine Herkunft, deine Ethnie. Und wo willst du suchen? Willst du den Topkapi-Palast besichtigen, den Galata-Turm besteigen und all das machen, was Touristen so machen? Nö. Was denn? Ich weiß noch nicht genau. Ich kann dir einen Tipp geben, wenn du etwas über den Wald lernen möchtest, sagt Isa, fragst du dann einen Baum oder fragst du die Vögel? Ich mag es nicht, wenn Menschen so reden. Ich bin nicht doof. Ich weiß, dass weder Bäume noch Vögel reden können. Natürlich können die nicht reden, sagt Isa, kneift die Augenbrauen zusammen, so dass seine Augen zu schmalen Schlitzen werden, und sieht mich prüfend an. Diesen Blick mag ich auch nicht. Jetzt lacht er wieder. Such bloß nicht an der falschen Stelle, sagt er. Wir sind ein abgefeimtes Volk, lass dir das gesagt sein. Ich nicke. Ich mag nicht, wenn Menschen etwas von Adlern und Vögeln und Ameisen erzählen, aber ich mag Isa, weil er es gut meint, das kann ich schen. Weil er es gut meint und viel lacht. Und weil er zwei Stunden später an meine Zimmertür klopft: Hör mal, Krishna, sagt er, du willst dieses Land doch kennenlernen. Ich habe gerade einen Anrufbekommen, ich muss dringend nach Nigde, es sicht mal wieder so aus, als würde meine Oma ihre letzte Reise antreten. Ich weiß nicht, wie lange ich weg bin, aber ich habe eine Karte für Erdogan für heute Abend, die kann ich dir geben, wenn du möchtest. Ja, gerne. Der Islam, haben sie gesagt, die Islamisierung des Landes, die Kopftücher haben sie gesagt, die verschleierten Frauen, die Männer mit Bärten, aber die Männer sind alle rasiert und die Frauen total aufgetakelt, kein einziges Kopftuch im ganzen Saal, dafür riecht es penetrant nach Parfüm, Haarspray und Rasierwasser. Kurz bevor es losgeht, werde ich ein wenig aufgeregt, weil mir einfällt, dass sie zu Beginn vielleicht die Nationalhymne spielen, doch dann kommt nur so eine komische basslose Musik und danach die Geräusche einer mechanischen Schreibmaschine. Das ist vielleicht eine Antwort auf die digitale Überwachung. Dann kommt unter großem Applaus Erdogan auf die Bühne. Ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit ausgehendem Haar und Schnauzer. Ich habe schon viel von ihm gehört, aber weil ich ohne Fernseher und Zeitung lebe, immer nur zuhöre, was die Menschen so erzählen, und lese, was sie posten, habe ich ihn noch nie geschen. Er beginnt damit, Witze über die zu spät kommenden Besucher zu machen. Er nuschelt ein bisschen und manchmal reicht mein Türkisch auch nicht, ich kann nicht alles verstehen. Er erklärt, warum er diesen Job macht und nicht einfach einer normalen Arbeit nachgeht. Er sagt, er finde seine Arbeit nicht lustig, es sei ihm ganz ernst, aber die Leute würden immer über ihn lachen. Dabei würde er auch gerne einem geregelten Job nachgehen, doch das Leben habe ihn zu dem gemacht, was er ist. Seine Kindheit, in der er die Sommer in Hakkari und die Winter in Ankara verbrachte, habe ihn zu einem Schauspieler werden lassen, weil er ausgelacht wurde, wenn er in Hakkari ein September 2015 73