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In den folgenden Jahren wurden immer wieder ehemalige Schüler, die 1938 ausgeschlossen worden waren, an die Schule eingeladen. Briefe, autobiografische Texte, aber auch Theaterstücke sowie musikalische Einlagen wurden — manchmal mit Beteiligung der einst vertriebenen Schüler (unter ihnen auch Alfredo Bauer und Hans Reichenfeld) - zur Aufführung gebracht. 2014 stand die Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit der eigenen Familiengeschichte im Vordergrund. Heuer wurde die jährlich stattfindende Feier durch eine Kooperationsveranstaltung mit dem Wiener Wiesenthal Institut (VWI) erganzt: Am 22.April 2015 stellte Suzanne Swartz, Doktorandin im Bereich Holocaust Education und zurzeit Fellow am VWI, im Festsaal des Gymnasiums ihre Forschungsarbeiten zu Begegnungen zwischen jiidischen und nichtjiidischen Kindern im besetzten Warschau vor. Konkret zeigte sie in dem Vortrag, wie anhand von Ausschnitten aus Interviews, Memoiren und Archivmaterialien jene Begegnungen zwischen jiidischen Kindern, die außerhalb des Ghettos Zigaretten verkauften, und nichtjüdischen Kindern, die ebenfalls in den Straßen Warschaus zu Hause waren, rekonstruiert werden können. Methodisch geht es in ihrem Projekt darum, Geschichtsschreibung mit neueren Ansätzen der Netzwerkforschung zu verbinden: Um Begegnungen an konkreten Orten aufzuzeigen, begibt sich die Historikerin in zahlreiche Archive in Warschau sowie in den USA und greift auf die großen Zeugnis- und Interviewdatenbanken des United States Holocaust Memorial Museum und der USC Shoah Foundation zurück. Oftmals gleicht ihre Arbeit REZENSIONEN dem Zusammenfügen eines Puzzles, dessen Teile aber nicht mehr vollständig vorhanden sind. Im Gespräch betont sie, dass es auch darum geht, Unsicherheiten, die das fragmentarische Material und fehlende Spuren mit sich bringen, in der wissenschaftlichen Arbeit sichtbar zu machen. Der multiperspektivische Zugang zu einem klar umrissenen Raum erlaubt es, Texte, Dokumente, Archivquellen und Passagen aus Interviews miteinander in Verbindung zu setzen. Suzanne Swartz betont, dass Kinder in Kriegen oftmals die ersten Leidtragenden sind, als historische AkteurInnen sind sie jedoch wenig erforscht, da ihnen sehr schnell die Opferrolle zugeschrieben wird und ihre Zeugnisse als besonders unzuverlässig eingestuft werden. Die Frage, warum es ihr wichtig ist, ihre Forschungen zu den ZigarettenverkäuferInnen aus dem Warschauer Ghetto an SchülerInnen zu vermitteln, beantwortet Suzanne Swartz folgendermaßen: „Das ist ein Grund, warum ich über Kinder während des Holocaust schreibe. Vor drei Jahren habe ich ein Praktikum beim Museum of Jewish Heritage in New York gemacht, es war ein Praktikum für Holocaust Education. Die Erfahrungen im Museumsbereich haben mir auch geholfen, mich auf die Präsentation vor Schülerinnen und Schülern vorzubereiten. Man muss sich immer wieder fragen, wie viel Kontext und Erklärungen man für Schülerinnen und Schüler bereitstellen soll. Für mich ist die Frage wichtig, wie man Quellen lesen kann. Historische Forschungen sollen für ein breiteres Publikum zugänglich sein.“ Das Projekt „umgeschult“ des Akademischen Gymnasiums sowie Suzanne Swartz Forschungen zu Begegnungen zwischen jiidischen und nichtjiidischen Kindern im Warschauer Ghetto zeigen, wie sehr die Weitergabe von Geschichten an konkrete Orte gebunden ist und wie wichtig das immer wieder neue Hinschauen und Neu-Erzählen für eine lebendige Erinnerungskultur ist. Aus den Gedenkfeiern der ersten Jahre wurde ein generationenübergreifendes Projekt, das auch mich als ehemalige Schülerin immer wieder an die Schule brachte und das — so hoffe ich — auch noch fiir meine Tochter Luna, die ab Herbst das Akademische Gymnasium besuchen wird, von Bedeutung sein wird. Hinweise Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel und Michaela Raggam-Blesch (Hrsg.): Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien. Wien: mandelbaum verlag, 2015. 607 S. Euro 29,90 € Projekt „umgeschult“ am Akademischen Gymnasium Wien: http://www.akg-wien.at/Projekte/ indexProjekte_2010.html Suzanne Swartz am Wiener Wiesenthal Institut fiir Holocaust-Studien (VWI): http://www. vwi.ac.at/index. php/forschung/fellows-aktuell/ junior-fellows/suzanne-swartz Anmerkungen 1 Die ersten Schiilerinnen maturierten 1886 und 1887 als Externistinnen; eine allgemeine Aufnahme von Mädchen erfolgte erst im Schuljahr 1949/50. Oliver Rathkolb zieht in seinem nun in erweiterter Neuauflage vorliegenden Buch „Die paradoxe Republik“ eine nüchterne, material- und detailreiche Bilanz für das Österreich der Jahre 1945-2015. Den Versäumnissen der Nachkriegszeit (Stichwort „Entnazifizierung“) und den gähnenden Lücken und Verzögerungen österreichischer „Vergangenheitsbewältigung“ widmet er ausführliche und kenntnisreiche Kommentare. In der Frage „Opfermythos“ (exkulpiernder Mißbrauch des staatsrechtlichen Opfer-Status) oder „Alleintätermythos“ (Reduktion der Eigenständigkeit Österreich auf bequeme Distanzierung von der Mitschuld an Nazi-Verbrechen) findet er vernünftig abwägende Worte, insbesondere in seinen „Anmerkungen zum Tatermythos* (S. 395ff.). Rathkolbs in vielen Aspekten ausgebreitete Geschichte der 2. Republik ist eine politische Geschichte, d.h., sie zentriert sich um die die politische Macht maßgeblich beeinflussenden Parteien, Institutionen und Persönlichkeiten und im das sich in der politisch-offiziellen Sphäre wandelnde oder perseverierende österreichische Selbstverständnis. Rathkolb hat das Material aufgrund eigener jahrzehntelanger Forschungen, u.a. als Biograph Bruno Kereiskys, gut im Griff. Seine Ausführungen zur sogenannten KreiskyWiesenthal-Affäre (S. 40 11ff.) schaffen, nebenbei gesprochen, das Ärgernis zwar nicht aus der Welt, machen aber das Verhalten Kreiskys ein wenig verständlicher. Nicht eingegangen wird in dem Buch auf einige, vielleicht eher zur Sozial- und Rechtsgeschichte ressortierende wesentliche Entwicklungen. So auf die Entwicklung des Staatsbürgerrechts, welches ja für das „Volk“ des Bundesverfassungsgesetzes konstitutiv ist. Angesichts der vielen Staatenlosen bzw. staatenlos Gewordenen, die 1945 und danach im Lande waren, unter ihnen die sogenannten Volksdeutschen, und derer, die schon seit der Option 1919 staatenlos waren, sowie des hohen Bevölkerungsanteils von Ausländern im heutigen Österreich wäre das ein interessanter demokratiepolitischer Aspekt. Nicht eingegangen wird auch auf die Strukturveränderungen der Städte, hervorgerufen durch die die Energie der Bevölkerung in hohem Maße bindende Siedlerbewegung, die von der öffentlichen Hand gefördert, die politische und kulturelle Ruhigstellung förderte. Die Selbstmordrate ist in Österreich dennoch weiter sehr hoch. Mit der Zersiedelung des Landes geht auch ein Verlust an Öffentlichkeit, der durch das Internet nicht wettgemacht werden kann, und eine Zerstörung städtischer Lebensräume einher, die z.B. in der Umfunktionierung von Hausgärten in Autoabstellplätze bemerkbar ist. Auch die im Vergleich zur Schweiz oder den Niederlanden nur schleppende Zunahme der Bevölkerung nach 1945 (trotz erheblicher Zuströme von Gastarbeitern, Vertriebenen und Geflüchteten) deutet auf Erklärungsbedürftiges hin. M.E. herrscht in den politischen Parteien und in der Sozialpartnerschaft ein in September 2015 81