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und der Wiener Schulreform geprägten pädagogischen Vorstellungen zu verwirklichen. Grundlegendes Prinzip in den Heimen war eine auf Gleichberechtigung basierende Gemeinschaftserziehung, die in der in einer „Verfassung“ geregelten Selbstverwaltung der Kinder und Jugendlichen und Mitbestimmung (mittels Wahlen) zum Ausdruck kam. Die geradezu idyllischen Zustände in den z.T. in Schlössern untergebrachten Heimen endeten abrupt nach dem deutschen Einmarsch 1940. Papanek musste mit seiner Familie neuerlich flüchten und gelangte auf abenteuerlichen Wegen nach Spanien und über Portugal in die USA. In USA hatte Papanck eine schwierige Zeit zu bestehen. Die von ihm intendierte Fortsetzung der Erziehung der geretteten Kinder in Kinderheimen wurde unterbunden, weil die zuständigen Behörden eine Zuteilung zu Pflegeeltern präferierten, um die Integration der Kinder und Jugendlichen in die amerikanische Gesellschaft zu fördern. Papanek und die mit ihm verbundenen Organisationen konnten nur einen Teil, erwa 200 der jüdischen Kinder in die USA retten — ein "Trauma, das ihm sein ganzes Leben zu schaffen machte. Obwohl viele der zurückgebliebenen OSE-Kinder von der französischen Bevölkerung gerettet werden konnten, fielen nicht wenige den 1942 in Frankreich einsetzenden Deportationen zum Opfer; Hanna Papanek hat ihre Namen im Anhang des Buches veröffentlicht. Nach Kriegsende arbeitete Papanek im Rahmen von amerikanischen Kinderhilfsprojekten zwei Jahre in Europa. In den USA leitete er bis 1958 - schr erfolgreich - Schulen für emotional gestörte und straffällig gewordene Mädchen und Burschen, unter ihnen der spätere Boxweltmeister Floyd Patterson. 1962 schloss er ein weiteres Pädagogikstudium an der Columbia University mit einer Dissertation über die österreichische Schulreform ab — ein Werk, das in Österreich Philip Meinholds siebzigjährige Mutter äußert überraschend den Wunsch, gemeinsam mit ihren drei Kindern und den älteren der Enkel nach Auschwitz zu fahren. Sie selbst galt nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen als „Jüdischer Mischling zweiten Grades“, ihre Verwandten wurden deportiert, zum Teil ermordet. Dennoch hatte Philip Meinhold sich selbst bis dato stets als Angehöriger des „Tätervolkes“ verstanden. Sein erster Impuls war, den Wunsch der Mutter zu verdrängen. Seine Auseinandersetzung mit ihm und endlich sein Entschluss, ihn zu erfüllen, sind der Anlass, sich dem eigenen Umgang mit dem Holocaust und mit der und Deutschland von der damals konservativ geprägten Erziehungswissenschaft nicht rezipiert wurde. Von 1959 bis 1971 wirkte er als Professor für Pädagogik an der City University of New York. Der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung blieb Ernst Papanek — so wie sein Sohn Gustav und seine Schwiegertochter Hanna - zeitlebens verbunden. Er war Vorsitzender der American Friends of Austrian Labor und Vorstandsmitglied der American Socialist Party, die er in der Sozialistischen Internationale vertrat. Eine Rückkehr nach Österreich kam nicht in Frage, weil die damalige SPÖ-Führung keine jüdischen Intellektuellen zurückholen wollte. Nur zufällig — während einer Reise — starb Ernst Papanck 1973 in seiner Heimatstadt Wien. Hanna Papanck, die in den letzten Jahrzehnten mehrfach zu Tagungen der Exilforschung nach Österreich und Deutschland gekommen ist und auch in der ZW publiziert hat, war die treibende Kraft für die vorliegende Publikation, die Leben und Werk eines profilierten Pädagogen zugänglich macht. Sie hat einen sehr lesenswerten autobiografisch orientierten Beitrag, „Als Jugendliche in den OSE-Heimen. Geschichte und Geschichten zu Ernst Papanek“, verfasst. Inge Hansen-Schaberg leuchtet die lebensgeschichtlichen Hintergründe der pädagogisch-politischen Arbeit Papaneks aus, und Gabriele Rühl-Nawabi steuert einen Beitrag über die pädagogischen und therapeutischen Grundlagen seiner Arbeit bei, in dem die Rezeption des individualpsychologischen Ansatzes von Alfred Adler durch Papanek herausgearbeitet wird. Die zum Teil erstmals veröffentlichten Schriften Ernst Papaneks beschäftigen sich vor allem mit den OSEKinderheimen in Frankreich 1938 bis 1940, deren Erfahrungen er eingehend beschreibt und analysiert. Die damals faszinierende, von Adlers pädagogischem Optimismus getragene Idee der Kinderheimerziehung, ist heute nicht mehr Familienvergangenheit zu stellen. Sorgfaltig und behutsam befragt er seine nachsten Verwandten, allen voran die Mutter, dann seine beiden älteren Geschwister, sowie deren Kinder. Dabei stellt er fest, dass jedes Familienmitglied seine ganz eigene Haltung zu dem Thema NS-Rassegesetze hat und vor allem ganz eigene Erinnerungen an die Rolle, die es in der Familie spielte. Hart rühren manche Erfahrungen der Familie während der Besichtigung des Konzentrationslagers an, so der völlig unbeteiligte Ton, in dem der „tour guide“ seinen Text in Rekordtempo abspult, während andere Besucher völlig unbefangen Erinnerungsfotos von sich und ihren Begleitern schießen — wie in jedem Urlaub halt... aktuell, aber die dort zur Anwendung gekommenen Prinzipien einer demokratischen und antiautoritären, der Gemeinschaft verpflichteten Erziehung sind weiter gültig. Hervorzuheben sind Papaneks Ausführungen über die jüdische Jugend in Europa, die die tragische Situation vieler entwurzelter, von ihren Familien gewaltsam getrennter und traumatisierter Kinder und Jugendlicher nach der Shoa eindrucksvoll beschreiben — ein Thema, das damals kaum jemand in Österreich ansprach. Ernst Papanek war eine bedeutende aus der österreichischen Sozialdemokratie hervorgegangene Persönlichkeit, der als Pädagoge, Therapeut und Erziehungswissenschaftler Außergewöhnliches geleistet hat— und trotzdem wenig Beachtung fand. Hanna Papanek hat sein (und anderer Exilierter) Dilemma charakterisiert: Aber auch wenn jemand an seinen Wurzeln festhält und seine persönliche und professionelle Identität als ein ungebrochenes Ganzes ansieht, kann es sein, dass die Ideen, Schriften und Praxisberichte aus seinen verschiedenen Exil-Orten nicht in die wissenschaftliche und politische Kultur dieser Orte integriert werden. Wer auf zu vielen Hochzeiten tanzt und zu oft seinen Sitzplatz wechselt, wird am Ende nirgends richtig wahrgenommen, ... so dass auch die Erinnerung an ihn unvollständig bleibt. Am Beispiel Ernst Papancks wird einmal mehr sichtbar, welchen nicht wiedergutzumachenden Verlust Österreich und die Sozialdemokratie durch politische und rassistische Verfolgung in der Zeit des Faschismus erlitten haben. Wolfgang Neugebauer Ernst Papanek: Pädagogische und therapeutische Arbeit. Kinder mit Verfolgungs-, Flucht- und Exilerfahrungen während der NS-Zeit. Hg. von Inge Hansen-Schaberg, Hanna Papanek, Gariele Rühl-Nawabi unter Mitarbei von Lars Asmussen, Elisabeth Groh-Lenz und Lisa Schaberg. Wien, Köln, Graz: Böhlau 2015. 281 S. € 39,Meinhold stellt dies alles dar, ohne es zu beoder gar zu verurteilen. Er gibt dem Leser Fakten an die Hand. Soll der damit umgehen. Dabei gilt grundsätzlich, dass jede Generation ihren eigenen Umgang mit Krieg und Vernichtung während der NS-Zeit finden muss und weiter wird finden müssen. Denn auch heute, siebzig Jahre nach der Befreiung, muss das Gedenken daran mehr beinhalten als das, was Ruth Klüger den „Leerlauf kreisrunder Phrasen“ nennt. Susanne Alge Philip Meinhold: Erben der Erinnerung. Ein Familienausflug nach Auschwitz. Berlin: Verbrecher Verlag 2015. 192 S. Euro 14,September 2015 85