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„April in Stein“ „Auf der Straße liegt ein Mann und Josef hört sein Schreien. Der Mann liegt in einer Blutlache. Die Buben wissen nicht, ob sie näher gehen sollen. Im Rücken das Schießen, die Explosionen, vor ihnen eine leere Straße und ein Mann in einem grauen Anzug mit grünen Aufschlägen in einer Blutlache. (...) Aus dem gegenüberliegenden Haus läuft eine Frau direkt auf den Verletzten zu, sie kniet nieder, hebt den Kopf des Verletzten hoch. Aus der Seitenstraße tritt ein Mann, das Gewehr im Anschlag, die Frau und der Soldat wechseln kein Wort, die Frau läuft vor dem auf sie gerichteten Gewehr zurück ins Haus. Schreien, Wimmern und Röcheln übertönen das Knattern, Josef hört keine Waffen, sondern schreiende Menschen. (...) Der Soldat (...) brüllt: "Wer ihm hilft, liegt daneben, mit einer Kugel im Kopf!' (...) Der Mann mit dem Gewehr lässt den Verletzten ausbluten, bis die Stimme immer leiser wird. (...) Aus dem undeutlichen Gebrüll des Mannes am Boden dringt ein 'Mutter‘. Mit einem Fußtritt und einem 'Ich werde dir eine Mutter geben’ hält der Mann den Lauf des Gewehres an den Kopf des Liegenden und drückt ab.“ Der Ermordete ist Karl Sanwald, ein steirischer Bergarbeiter aus Voitsberg. Der Mörder, ein unbekannter SS-Mann. Karl Sanwald wird wegen einer Spende für die „Rote Hilfe“ und „Wehrkraftzersetzung“ zu 15 Jahren Zuchthaus in Krems-Stein verurteilt. Sein eigener Sohn hat ihn angezeigt, weil er dessen freiwillige Meldung zur Wehrmacht mit den Worten: „Kommst schon nicht zu spät!“ verboten hat. „Zu Weihnachten 1941 in Stein kam die Nachricht seiner Frau, auf einer Postkarte. Mühsam hat sie die Buchstaben gemalt und ihm mitgeteilt, dass der Hubert [sein Sohn] vor Moskau gefallen sei. In diesem Augenblick, in der Zelle, als er die Wörter zusammensetzte und wusste, was sie zu bedeuten hatten, wäre er fast wahnsinnig geworden. So wollte er nicht recht behalten.“ Robert Streibel findet in seinem Roman „April in Stein“ eine Sprache, die den Leser, die Leserin unmittelbar ins Geschehen zwingt. Es ist Kriegsende, die Rote Armee steht knapp vor Krems. Und dann kommt es am 6. April 1945 und in den Folgetagen zu einem Massaker an freigelassenen politischen Häftlingen des Zuchthause Krems-Stein, direkt im Gefängnis und in der Umgebung von Krems - zur „Kremser Hasenjagd“. Beim Lesen des Romans blättert man unwillkürlich immer wieder ans Ende des Buches. Dort befindet sich ein Namensverzeichnis mit 86 _ ZWISCHENWELT Kurzbiografien. Und man atmet auf, wenn man etwa liest, dass Sigi Kalt oder Otto Fluch das Massaker überlebten. 386 politische Gefangene aus halb Europa werden jedoch ermordet, darunter auch die Mehrzahl derer, die in den Kurzbiografien angeführt werden. Der Zeuge Jehovas Walter Schuster ist nicht unter ihnen. Er geht seinen griechischen Zellengenossen zwar mit seinem religiösen Gehabe gehörig auf die Nerven, doch als er durch den Gefängnisaufseher Wagner misshandelt wird, da er es gewagt hat, in der Zelle zu rauchen, pflegen sie ihn rührend. „Die Hände falten sie ihm auf der Brust, so liegt er da und stöhnt, als sie ihm das Blut aus dem Gesicht wischen. Sie erkennen keines der Worte wieder, das Schuster von sich gibt, sein Singsang ist einem stoßweisen Röcheln gewichen. Die Flüssigkeit, mit der sie dem hageren kleinen Mann einen Tag später immer noch die Stirn abtupfen, ist rostig wie an jedem Wochenende, wenn das Wasser lange in der verbeulten Kanne gestanden hat.“ Seit Jahrzehnten beschäftigt sich Robert Streibel mit der Geschichte der Stadt Krems in der NS-Terrorzeit. Seine Bücher dazu oder sein Filmprojekt „Die Kremser Hasenjagd“ sind Beleg dafür. Im Roman geht er jedoch neben den Opfern auch den Geschichten der Täter nach. Bert Wagner, einer der brutalsten Gefängniswärter aus Stein, wird zu 20 Jahren Haft verurteilt, kommt aber durch eine Weihnachtsamnestie schon 1955 frei. Er kehrt in die Nähe von Krems zurück und begeht zwei Jahre später in seinem Schuppen Selbstmord. Auf dem Tisch, auf den er gestiegen ist, um sich zu erhängen, findet seine Frau ein Kreuz und ein umgedrehtes Hitlerbild vor. Abschiedsbrief hinterlässt er keinen. Robert Streibel hat die Namen der vielen im Buch vorkommenden Personen geändert, manche Ereignisse zusammengezogen und auch die Erlebnisse von Personen miteinander verschmolzen. Im Vorwort nimmt er dazu Stellung: „Würde ich gefragt, wie viel Realität und wie viel Fantasie in diesem Roman steckt, so ist der durch Fakten belegte Teil sicherlich sehr hoch — so hoch, wie es mir möglich war.“ Folgedessen übertitelt Streibel ein Kapitel über einen der Täter mit „Mutmaßungen über Karl Sperber“. Dieser ehemalige Aufseher lebt nach seiner Begnadigung im Jahr 1955 in Zell am See auf einem Campingplatz und hilft dort seiner späteren Frau. 1995 erfährt er aus Zeitungsberichten vom Gedenken an das Massaker. Daraufhin fährt er erstmals wieder nach Krems-Stein und erschießt sich am Friedhof vor dem Massengrab für die Opfer des Massakers. Wiederholungen wie der Hinweis, dass Häftlinge gleicher Nation nicht in der gleichen Zelle untergebracht werden dürfen oder übertriebene Sprachbilder, wie wenn z.B. Kleidungsstücke „durch Fußtritte tätowiert“ werden, hätten durch ein genaueres Lektorat vermieden werden können, stören aber den Lesefluss kaum. Man liest aus unterschiedlichen Perspektiven über gelungene, aber noch häufiger gescheiterte Fluchten, Zivilcourage unter der Bevölkerung, Standhaftigkeit und Solidarität unter den Gefangenen, Hilfe durch einige wenige Gefängnisaufseher, aber auch über Grausamkeit, Herzlosigkeit, Elend und Verzweiflung, über das Gemetzel im Gefängnishof und Massenerschießungen in Hadersdorf am Kamp sowie von einem griechischen Gefangenen, der dem Massaker entkommt und seit Kriegsende in Krems lebt. In den letzten Jahren sind eine Reihe von Romanen und Erzählungen erschienen, die sich mit den NS-Verbrechen und seinen österreichischen Tätern auf dem Gebiet des heutigen Österreichs beschäftigen. Neben Erich Hackls Büchern etwa Ludwig Lahers Romane „Herzfleischentartung“ — über das NS-Arbeitserziehungslager und „Zigeuneranhaltelager“ Weyer-St. Pantaleon — und sein Roman „Bitter“ — über den hochrangigen Gestapomann und SS-Sturmbannführer Friedrich Kranebitter —, aber auch der Roman „223 oder das Faustpfand“ des Theodor KramerPreisträgers Manfred Wieninger über das Massaker an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern in Hofamt Priel bei Ybbs. Neben der immer noch notwendigen historischen Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus finden nun diese auch in der österreichischen Gegenwartsliteratur ihren Niederschlag. Der Roman „April in Stein“ ist ein weiteres notwendiges und wichtiges Beispiel dafür. Robert Streibel schreibt aus einer distanzierten, nicht wertenden Position. Vielleicht ist der Roman gerade deswegen so bewegend. Und wahrscheinlich zieht er einen gerade deshalb so in seinen Bann. Der im Zitat zu Beginn erwähnte „Josef“ ist übrigens das Alter Ego von Robert Streibels Vater, der das Massaker als Kind erleben musste. Martin Krist Robert Streibel: April in Stein. Roman. St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz 2015. 262 5. € 22,90