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uns, unsere Kinder und Enkelkinder geschrieben. Batya Horn, die Verlegerin der edition splitter, des kleinen, sehr feinen Wiener Verlags mit einer dazugehörigen Galerie, hat sich dieser Geschichte angenommen und als Buch in ihrem Verlag herausgegeben. Wie alle Bücher der edition splitter wien ist auch dieses Buch im feinsten Druckverfahren hergestellt, ansprechend und ästhetisch. Annika Tetzner, die Protagonistin des Buches, ist die einzige Überlebende ihrer Prager Familie, die 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, überlebte Auschwitz-Birkenau und Mauthausen. Vom Leben im KZ und nach der „Befreiung“ psychisch gebrochen, wohnt die heute Fünfundsiebzigjährige in einer zauberhaften kleinen Straße inmitten von Jerusalem, die Zimmer geschmückt mit Erinnerungen und umgeben von ihrer Kunst. Ihre Kindergedanken hat sie in englischer Sprache aufgeschrieben. Annika Tetzner, eine hervorragende Künstlerin, illustrierte ihre Texte im Buch mit sehr ruhigen, einfach gestalteten, schr informativen kindgerechten Kreidezeichnungen. Die jüdische Gemeinde in Teplice/Teplitz in Nordböhmen an der tschechisch-deutschen Grenze hat von Annika Gemälde in ihre Sammlung aufgenommen und bereits Ausstellungen ihrer Werke gezeigt. Christel Wollmann-Fiedler Annika Tetzner: Die rote Masche. Ein Shoahbuch für Kinder & Erwachsene. Aus dem Englischen von Gabriella Attems. Vorwort von Elisabeth von Samsonow. Wien: edition splitter 2015. 112 S. € 15,1975 erschien der erste Band des dreibändigen Standardwerkes des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) „Widerstand und Verfolgungin Wien 1934 — 1945“. Es folgten bis zum Jahre 1991 nahezu gleichartige Werke über die anderen österreichischen Bundesländer. Offen blieben Vorarlberg, Kärnten und die Steiermark. Sieht man von Vorarlberg ab, war das Ausbleiben der Arbeiten über Kärnten und die Steiermark signifikant. Die Besonderheit Kärntens mit den fließenden Übergängen von deutschnationalem „Abwehrkampf“, Nationalsozialismus und tiefverwurzeltem Antislawentum ist zwar mittlerweile wissenschaftlich einigermaßen aufgelöst, blockierte aber lange Zeit einen produktiven Umgang mit der NSZeit und ist nach wie vor nicht einfach. Was die in mancher Hinsicht damit vergleichbaren Verwerfungen in der Steiermark betrifft, so waren schon frühzeitig Historiker mit einer solchen Forschungsarbeit befasst, letztlich aber gelang es nicht, ein derartiges Werk im Einvernehmen mit den regional dominierenden akademischen Platzhirschen auf den Weg zu bringen, sodass sich in den 80-er Jahren ein 1952 in Kärnten geborener Universitätsdozent mit dieser Problematik profilieren und 1986 ein mehr als 600 Seiten starkes Werk mit dem Titel „Die Steiermark im Dritten Reich 1938 — 1945“ publizieren konnte. Zuvor war der Autor, Stefan Karner mit nicht gerade aufsehenerregenden Studien über „Kärntens Wirtschaft 1938 — 1945“ (mit einem Nachwort von — Albert Speer), „Burgenland 1945“ oder „Bad St.Leonhard in alten Ansichten“ nicht sonderlich beachtet worden. Von nun an aber gestaltete sich seine Karriere nicht nur als Landes-, sondern auch als Staatshistoriker, insbesondere nach Öffnung der sowjetischen Archive in den 90-er Jahren, in frappierender Weise steil und gipfelte zu Beginn des Jahres 2013 anlässlich seines 60. Geburtstages in einer akademisch-staatlichen Huldigungsfeier mit mehreren hundert Gästen samt Laudatio von Ex-Kanzler Schüssel: „Der Blick nach Osten, zur Ukraine, nach Russland und Zentralasien — das sind europäische Perspektiven, die wir schen müssen und ich bin sehr froh, dass gerade mein Freund Stefan Karner immer ein wirklicher Herold dieser Öffnung gewesen ist und hoffentlich auch bleiben wird.“ 92 — ZWISCHENWELT Eine Wissenschaft, die die „europäischen Perspektiven“ „nach Osten, zur Ukraine, nach Russland und Zentralasien“ richtet, konnten die Herrschenden aller Couleurs hierzulande bis in unsere Zeit hinein immer schon gut brauchen, nicht zuletzt auch die Nationalsozialisten. Weshalb es rückblickend schmunzeln macht, sieht man sich die Kapiteleinteilung von Karners NSBuch nochmals an. Immer geht es um die Herrschaft und ihre Sicherung samt Wirtschaft und deren Ordnung; Widerstand ist eine Fußnote, Opfer sind zweitrangig. Dennoch galt Karners Buch damals als Standardwerk. Manchmal ohne direkten Bezug, jedenfalls nicht zufällig erhob sich dagegen Widerstand von verschiedenen Seiten. Weniger akademisch, sondern in dem, was heute gern schwammig Zivilgesellschaft genannt wird. Aus einer dieser gegen Geschichtsschreibung als Affirmation herrschender Ideologie gerichteten Bestrebungen ging in den 90-er Jahren, vor nunmehr zwanzig Jahren, der Grazer Verein fiir Geschichts- und Bildungsarbeit Clio hervor. Dessen mafgebliche Historiker, der Clio-Leiter Heimo Halbrainer und Gerald Lamprecht, seit 2006 Leiter des Centrums fiir jüdische Studien an der Universität Graz, haben seither eine Vielzahl von Publikationen auf den Weg gebracht, die die Opfer des Nationalsozialismus ebenso in den Mittelpunkt stellen wie die, die gegen ihn Widerstand geleistet haben. Nur wer darauf sein Hauptaugenmerk richtet, vermag wenigstens Anhaltspunkte dafür sichtbar zu machen, dass heutige und nachfolgende Generationen aus dem Nationalsozialismus, ja überhaupt aus der Geschichte für ihr praktisches Handeln lernen können. Es ist wahrscheinlich, dass, wer sich an Karners Buch wenigstens als problematisch erinnert und das nun erschienene Werk von Halbrainer/ Lamprecht über den Nationalsozialismus in der Steiermark zur Hand nimmt, schon beim Lesen des Inhaltsverzeichnisses erleichtert aufatmen wird. Urteilen Sie selbst anhand der im folgenden genannten Kapitel des Buches: Die Steiermark 1918 - 1938 / Die nationalsozialistische Machtübernahme: Begeisterung und Verfolgung / Die NS- “Volksgemeinschaft“: Erwartungen — Versprechen — Zwänge | Jugend im Nationalsozialismus / Was ist die „Volksgemeinschaft“ und wer sind ihre Feinde? / Der Völkermord an Jüdinnen und Juden / Der nationalsozialistische Terror / Alltagsleben im Nationalsozialismus / Widerstand / Das letzte Verbrechen: Die Ermordung ungarisch-jüdischer ZwangsarbeiterInnen in der Steiermark / Von der Befreiung bis zur Gegenwart Ich halte es für einen besonderen Vorzug dieses mit charakteristischem Bildmaterial informativ illustrierten Buches, die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser durch präzise Fragen auf die wesentlichen Umstände der einzelnen Abschnitte der hier genannten Kapitel zu lenken. Das mag manchen vielleicht zu schulmäßig und lehrbuchhaft erscheinen und entspricht auch der Absicht der Herausgeber der Reihe, die im Vorwort schreiben, das Buch wende „sich in besonderer Weise an ein jugendliches Lesepublikum. Es unterstützt Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Unterrichtsgestaltung“, richte sich „aber auch an Erwachsene“. Derlei wird im akademischen Betrieb häufig geringgeschätzt. In Wahrheit gehört es zu den besonderen Qualitäten von Wissenschaftlern, ihr Fachgebiet auf eine Weise darlegen zu können und fassbar zu machen, die gerade sachlich weniger kundigen, insbesondere jungen Menschen eine spannende und interessante Annäherung erlaubt. Hinzu kommt, dass sich die Autoren einer Oberflächlichkeit und Phrasenhaftigkeit im Umgang mit dem Nationalsozialismus entgegenstellen, die in der Öffentlichkeit vielfach um sich gegriffen hat und wesentliche Fragen marginalisiert. Wie sie das tun, ist schon allein aus den Kapitelunterteilungen ablesbar; ich nenne als Beispiel das Kapitel „Was ist die 'Volksgemeinschaft und wer sind ihre Feinde?“. Die Unterabschnitte tragen folgende Zwischentitel: Wie erkennt man „Volksfeinde“? / Wie gehen die Nationalsozialisten gegen die „Volksfeinde, „Volksverräter“, „Nörgler“ und „Defätisten“ vor? / Welches Schicksal erleiden Roma und Romnija / Was verstehen die Nationalsozialisten unter „Euthanasie“ und welche Wurzeln hat die NS-Euthanasie?/ Welche Folgen hat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“? / Wie wird die Vernichtung „unwerten Lebens“ in der Steiermark durchgeführt? / Was weiß die Bevölkerung über die Ermordung von Pfleglingen und gibt es Widerstand dagegen? / Warum werden Homosexuelle verfolgt? / Franz Baranyai: Vom Überleben in der steirischen Provinz / Franz Baranyai: In Auschwitz