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Gerade in einem Jahr, in dem die Ringstraße im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht und ihre jüdischen Bauherrn in einer Ausstellung des Jüdischen Museums Wien präsentiert werden, bildet das vorliegende Buch ein erfreuliches und notwendiges Gegengewicht. Denn es zeigt, dass die Mehrheit der Wiener jüdischen Bevölkerung nicht in Palais, sondern unter oft bedrängten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Verhältnissen lebte. Das Unternehmen, mit Ottakring und Hernals gleich zwei Wiener Gemeindebezirke auf ihre jüdische Geschichte hin zu untersuchen, ist ehrgeizig. Denn auch diese Bezirke, die man nicht sogleich mit jüdischer Geschichte in Zusammenhang bringt, bieten — wie der Umgang des Buches zeigt — eine Fülle an historischem Material und an menschlichen Schicksalen. Indem die Autorinnen diese Geschichte anhand von Biographien erzählen, haben sie ein gut lesbares und oft auch berührendes Buch geschrieben. Das Buch zeigt aber auch, dass in diesen Vorstadtbezirken jüdische Angehörige unterschiedlicher Schichten lebten. Ärzte und Rechtsanwälte ebenso wie große Brauherrn — die Kuffners - PolitikerInnen und Künstler. Jüdisches Zentrum der Gemeinde war der Hubertempel, dazu kamen noch Bethäuser und jüdische Vereine. Gleichzeitig fühlten sich die Mitglieder der Gemeinde als WienerInnen. Daher brachten Ottakring und Hernals auch eine ganze Reihe von Kulturschaffenden hervor, von denen die Maler Ernst Fuchs und Arik Brauer sowie der Schriftsteller Frederic Morton die bekanntesten sind. Andere, wie die Schriftsteller Ernst Waldinger, Albert Ehrenstein und Fritz Kalmar, verloren nach ihrer Vertreibung durch die Nationalsozialisten ihr sprachliches und kulturelles Umfeld und gerieten in ihrer Heimatstadt weitgehend in Vergessenheit. Dass sie in dem Buch auch anhand von Beispielen aus ihrem Werk präsentiert werden, ist besonders erfreulich. Die Gedichte Ernst Waldingers über Hernals und Ottakring stellen nach Meinung der Rezensentin kleine Juwele dar. Zu Recht bedauern die Autorinnen die geringe Rezeption der Person und des Werkes Ernst Waldingers in der Zweiten Republik. Daher verwundert es, dass sie die von Peter Eppel zusammengestellte zweibändige Dokumentation „Österreicher im Exil: USA 1938 bis 1945“ außer Acht ließen, wo zahlreiche Hinweise auf Waldingers Tätigkeit während des Kriegs in Exilorganisationen und für die Kriegsanstrengungen der amerikanischen Regierung zu finden sind, aber auch gezeigt wird, dass für den Autor eine Rückkehr ins Nachkriegsösterreich aufgrund der hier vorherrschenden politischen und gesellschaftlichen Stimmung nicht in Frage kam.' Die im Buch zitierte Aussage Theodor Waldingers, sein Bruder sei nie wirklich in den USA angekommen, wird der komplexen Haltung des Autors nicht ganz gerecht. Überhaupt ist es gerade angesichts der sehr gründlichen Quellenforschung der Autorinnen verwunderlich, dass sie die ExilDokumentationen des Dokumentationsarchivs Recha Schweitzer wurde 1892 in Ostfriesland in eine orthodoxe jüdische Familie geboren. Über große Umwege kam sie nach Berlin, zwischenzeitlich heiratete sie den Oberrabbiner Moritz Freier. 1933 gründete sie in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg die Jugend-Alijah. Nach der Reichspogromnacht 1938 setzte sie ihren Wunsch in die Tat um, Kinder und Jugendliche nach Palästina in Kibbuzim und Familien unterzubringen. 1940 konnte sich Recha Freier mit ihrer Tochter und einer Gruppe von neunzig Kindern über Wien und Zagreb nach Palästina retten. Vierzig Kindern fehlten die Papiere, sie mussten in Zagreb zurückbleiben. Unter ihnen befand sich Sonja Borus, die 1927 in Berlin geborene Dreizehnjährige. Beila und Abraham Borus, die Eltern, eingewanderte polnische Juden, waren der großen Armut entflohen und hatten mit ihren Kindern ein dürftiges Leben in der Großstadt Berlin geführt. Bereits im Herbst 1939 wurde der Vater als feindlicher Ausländer abgeholt und starb an Misshandlungen im Konzentrationslager Sachsenhausen. Der ältere 94 ZWISCHENWELT Sohn Samuel Borus floh 1939 in den von den Sowjets besetzten Teil Polens, und nie wieder hörte Sonja, die Schwester, von ihm. Die Mutter Beila versuchte mit den Kindern zu überleben. In ihrer großen Not vertraute Beila ihr Kind Sonja der Jugend-Alijah an. Sie selbst blieb mit Martin, dem Jüngsten, in Berlin und musste Zwangsarbeit bei Siemens verrichten. Die Freundin Lilli Lewin wusste um Sonjas große Sehnsucht nach der Mutter und dem kleinen Bruder in Berlin und schenkte Sonja zu Chanukka 1941 in Lesno Brdo ein Tagebuch. Sonja sollte ihre Gefühle, ihre Gedanken aufschreiben. Am 17. Dezember 1941 begann Sonja in unregelmäßigen Abständen mit ihren Eintragungen. Ein wichtiger Fundus wurden diese persönlichen Eintragungen für den Historiker Klaus Voigt. Lange Zeit hat er in Nonantola in der Provinz Modena in Italien zugebracht. Vor Jahren wurde er Ehrenbürger des kleinen Städtchens. Die Abtei Nonantola, die Klosteranlage aus dem Jahr 762, und die Villa Emma, eine Soemmerresidenz am Rande der Stadt, sind die wichtigsten Sehenswürdigkeiten des österreichischen Widerstandes nicht herangezogen haben. Sehr gelungen ist die Einleitung des Buches, die einen guten Überblick über die Geschichte der Bezirke Hernals und Ottakring sowie ihrer jüdischen Bevölkerung gibt. Leider erreichen die Darstellung der jüdischen Gemeinde sowie die Ausführungen über das Volksheim, das Ottakringer Settlement und die ,Aktion Gildemeester“ nicht ganz dieselbe Aussagekraft. Dennoch haben die Autorinnen ein gut recherchiertes, ansprechendes und informatives Buch vorgelegt, das die gesellschaftliche, politische, kulturelle und religiöse Vielfalt zweier Wiener Vorstadtbezirke und ihrer jüdischen Bevölkerung verdeutlicht. Die Biographien zeigen aber auch, wie grausam dieses Leben durch die Nationalsozialisten zerstört wurde. Eleonore Lappin-Eppel Evelyn Adunka, Gabriele Anderl (Hg.): Jüdisches Leben in der Wiener Vorstadt — Ottakring und Hernals. Wien: Mandelbaum Verlag 2013. 390 S. Euro 24,90 Anmerkung 1 Vgl.: Peter Eppel (Hg.), Österreicher im Exil USA 1938-1945. Eine Dokumentation, 2 Bde., Wien 1995, 1. Bd.: S. 303 f., 315, 321 f., 328, 351, 364, 372, 381, 439, 510; 2. Bd.: S. 34, 36, 670, 684, 699. des Städtchens, doch von unterschiedlicher Bedeutung. Die Geschichte der Villa Emma ist vielfaltig besprochen und beschrieben worden. Vor Jahren stellte Klaus Voigt seine historische Aufarbeitung dieses Themas in seinem Buch »Ragazzi ebrei in fuga“ in Italien vor, das spater auch in deutscher Sprache im Verlag Metropol in Berlin erschienen ist. Die deutsche Wehrmacht besetzte im April 1941 Jugoslawien und die Gruppe Kinder und Jugendlicher aus Deutschland, Osterreich, Polen und Jugoslawien wurde von dem Kroaten Josef Indig, dem treuen Begleiter, von Zagreb nach Lesno brdo bei Ljubljana gebracht und 1942 dann in großer Eile nach Norditalien, nach Nonantola. Die italienische jüdische Organisation „Delasem“ in Genua hatte die Villa Emma gemietet und finanzierte das tägliche Leben der inzwischen auf 73 Mädchen und Jungen und 18 Erwachsene angewachsenen Gruppe. Die Bürger des Städtchens Nonantola solidarisierten sich mit diesen fremden jüdischen Kindern. Schon am 5. Juli 1942 erfahren wir aus den Tagebucheintragungen von Sonja, dass sie und