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ihre Gefährten weggehen werden von Lesno Brdo, über Triest und Modena nach Nonantola. Das Begehen jüdischer Feiertage hier und zu Hause in Berlin vergleicht und beschreibt sie, schwärmt über Ausflüge nach Ljubljana ins "Theater, über Filme und Bücher. Wir erfahren, wie kritisch die fast Fünfzehnjährige ihre Umgebung und auch die Charaktere der Menschen sieht, mit denen sie zusammenlebt. Tägliche Begleiter sind Tränen. Ihr junges Seelenleben schwankt hin und her, Zweifel holen sie ein. Befindlichkeiten und Sehnsüchte, beginnende Freundschaften und Liebeleien, Eifersüchteleien und Enttäuschungen quälen das erwachsen werdende Mädchen. Ganz persönliche Gedanken vertraut sie diesem Tagebuch an, schreibt über ihr „hässliches“ Aussehen, hat kein Vertrauen zu sich selbst; Gefühle eines Kindes, dem die Familie genommen wurde, das in ihm völlig unvertraute Länder und Lebensverhältnisse geraten ist. Wir erfahren über Sonjas Einsamkeit und Verlassenheit und immer wieder über die Sehnsucht nach ihrem Zuhause, nach der Mutter und dem kleinen Bruder. Diese Sehnsucht nach der Mutter wird für Sonja eine Lebensbegleiterin, das Erwachsenwerden kommt von heute auf morgen, weit weg von der Familie, die bereits in Gaskammern ermordet wurde. Die unsichere Zukunft in Eretz Israel, dem Land der Rettung, liegt ihr bereits schwer auf der kindlichen Seele. Sonja schreibt am 26. Juli 1943, dass Mussolini abgesetzt sei und am 27. August 1943 bereits deutsche Soldaten zu sehen gewesen seien. Am 11. September 1943 steht im Tagebuch, dass Italien mit England Frieden geschlossen habe und sich die Deutschen rächen würden an den Juden! Die Kinder verlassen die Villa Emma, die Jungen werden im Priesterseminar neben der Abteikirche untergebracht und die Mädchen bei den Nonnen des Hospitaliterinnenordens. Beim Umzug geht ihr Tagebuch zeitweilig verloren. Scham über das Geschriebene kommt auf, weil es nun von anderen gelesen werden kann. Sehr unwohl fühlt sich Sonja in der Gemeinschaft mit den anderen Mädchen und den Nonnen, möchte gerne bei Bauern wohnen. Die deutschen Soldaten im Ort dürfen die Kinder nicht wahrnehmen, Wand an Wand wohnen sie bereits mit ihnen. Gefängnisähnlich erscheint Sonja die Situation. Ob die Schweiz die jüdischen Kinder aufnehmen wird, ist ungewiss. Unweit von Nonantola im Dorf Rubbiara wird Sonja in die bäuerliche Familie des Pfarrers Don Arrigo Beccari aufgenommen und fühlt sich dort besser. Don Beccari kümmert sich um Waisenkinder und hat die Flucht der Kinder in die Schweiz eingeleitet. 27 Kinder und Erwachsene, darunter Sonja Borus, verlassen am 12. Oktober 1943 Nonantola. Mit dem Zug über Modena und Mailand reisten sie weiter nach Varese. Anspannung und Angstsind groß. Bei einem Bauern übernachten sie. Weiter geht die Flucht durch Wälder und Berge bis zur Tresa, dem Grenzfluss zwischen der Lombardei und dem Tessin. Todesängste vor dem Überqueren und Durchschwimmen der Tresa überkommen Sonja. Dann die unendliche Freude über die gelungene Flucht, die Freude beim Ankommen und Aufgenommenwerden in der Schweiz im Oktober 1943. Die geordneten Verhältnisse und die Ordnung im Internierungsheim in Rovio oberhalb des Luganer Sees, die Pünktlichkeit des Tagesablaufes beeindrucken das junge Mädchen. Sie erwähnt dies in einem der wenigen freudigen Sätze. Auch Ängste, dass die Deutschen in der Schweiz einfallen könnten, überkommen sie unweigerlich. Mit viel Fantasie beschreibt Sonja, das Berliner Kind, die landschaftliche Pracht dieses freien, gastlichen Gebirgslandes. An den schneebedeckten Bergen kann sie sich kaum sattsehen. Inzwischen werden die Kinder nach Belmont bei Montreux gebracht und danach im Wer weiß schon, dass Indien ein Zufluchtsort für Verfolgte des Nationalsozialismus war? Oder dass Mahatma Gandhi und der spätere Premierminister Jawaharlal Nehru (1889 - 1964, bei — uns als Pandit Nehru bekannt) — neben anderen prominenten und weniger bekannten Personen - dazu beitrugen? Die Autorin des umfang- und detailreichen Werkes beginnt zu Recht damit, das Land der Zuflucht, das erst im Jahr 1947 von der britischen Kolonialherrschaft befreit wurde, zunächst in seiner Uneinheitlichkeit vorzustellen. Indien, „dessen Entstehung inmitten weltpolitischer Krisen und Weltkriege in vollem Gang war ... das selbst von direkter britischer Bevormundung und psychologischen Unterdrückungsmechanismen geknebelt doch temporäre Heimat für tausende zentraleuropäische Fliichtlinge vor dem Nationalsozialismus wurde und diesen Menschen dadurch ein Überleben garantierte. ... ein Land voller Widersprüche und Gegensätze, in dem es trotz gesetzlicher Beschränkungen und gesellschaftspolitischer Vorgaben Möglichkeiten gab, Freiräume zu schaffen bzw. sich für das Wohl von ExilantInnen zu engagieren“ (S. 7). Ist diese Einleitung nicht auch schon als Stellungnahme zur Problematik von Flüchtlingen in unserer Gegenwart zu verstehen? Eine ähnliche Absicht lag schon dem Sammelband „Going East — Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika“ zugrunde, den Margit Franz zusammen mit Heimo Halbrainer im Jahr 2014 im CLIO-Verlag Graz herausgab, mit Beiträgen von 22 weiteren Autoren. (Besprechung in ZW 31.Jg., September 2014). Dort widmete Margit Franz ein Kapitel (S. 401-431) den Osterreichern, die in Britisch-Indien Zuflucht fanden. Es waren etwa 500 bis 700 Menschen aus der damaligen „Ostmark“. Die Zahl aller deutschsprachigen Flüchtlinge liegt nach derzeitigen Schätzungen bei vier- bis fünftausend. In ihrem grundlegenden Jugend-Alijah-Heim in der Villa des Bains in Bex im Rhönetal auf Eretz Israel vorbereitet. Mit anderen zionistischen Gruppen treffen sie sich in Sommerlagern. Vom Krieg ist in den Schweizer Bergen ist nichts zu spüren. Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder hilft mit finanzieller Unterstützung, so kann Sonja die Tante in Luzern besuchen und erfreut sich an ihrem neuen Kleid. Die Launen und das Gezänke unter den Mädchen gehen mehr oder weniger weiter. Zu Rosch HaSchana am 18.9.1944 ist sie siebzehn Jahre alt und seit vier Jahren auf der Flucht. Am 26. November 1944 endet das Tagebuch von Sonja Borus vorerst. Schon am 11. Juni 1945 befinden sich die Kinder und Jugendlichen aufdem Weg nach Palästina. Von Barcelona aus fährt das Schiff nach Haifa. Am letzten Oktobertag 1945 berichtet Sonja bereits aus dem Kibbuz Eilon, nahe der libanesischen Grenze. Aufgenommen wird sie im Kibbuz Ruchama, die letzte Tagebucheintragung ist mit 18.8.1949 datiert. Sonja Borus wird bis ins hohe Alter in diesem Kibbuz leben. Zeige der Welt nur ein lachend Gesicht, Denn weinende Augen versteht sie nicht. Wenn Dir das Herz auch brechen will, Lache, lache — und weine still schrieb ihr 1941 die Freundin Lilli Lewin ins Tagebuch. Dieser Vers wird das Lebens- und Überlebenscredo der heute achtundachtzigjährigen Schoschana Harari, wie sie sich später in Israel nennt, im Kibbuz Ruchama in der Negev Wüste, geworden sein. Christel Wollmann-Fiedler Sonja Borus: Sonjas Tagebuch. Flucht und Alija in den Aufzeichnungen von Sonja Borus aus Berlin, 1941-1946. Hg. von Klaus Voigt. Berlin: Metropol 2014. 315 5. € 22,- (Bibliothek der Erinnerung. Ba. 24). Werk zeichnet die Autorin die Schicksale sehr vieler dieser Menschen auf. Sie lohen aus dem nationalsozialistischen Deutschland, aus Österreich, der’Ischechoslowakei und Ungarn. Einige strandeten zufällig bei Kriegsbeginn in Indien, wie der Geschäftsmann Georg Hitschmann, ein Wiener Jude, der sich im September 1939 in Bombay auf einer Geschäftsreise nach China aufhielt, oder die Bergsteiger Fritz Kolb und Ludwig Krenek, die als Sozialisten sonst im KZ gelandet wären (S. 11). Die Autorin versteht ihr Buch „neben Analyse und Quellensammlung“ auch als Gedenkbuch. Für ihre Arbeit hat sie außerordentlich viel recherchiert und gefunden. Das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst öffentliche und private Archive, Datenbanken, das Internet, Manuskripte, Interviews, Korrespondenzen, Filme (Liste S. 409-418) sowie gedruckte Quellen (Liste S. 418-440). Das Personenverzeichnis enthält September 2015 95