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auf 20 Seiten rund 700 Namen, einschließlich jener 580 männlichen Personen, die auf der „Entlassungsliste deutscher Zivilinternierter in Britisch-Indien vom September 1939 bis März 1940“ aufscheinen - sie wurden auf freien Fuß gesetzt, während insgesamt die Zahl der Internierten im Zentralinternierungslager Ahmednagar bei 888 lag (S. 389-407; Landkarte der Internierungslager in Britisch-Indien 1939 bis 1946 auf S. 193). Dem Problem der Internierung ist ein eigenes kritisches Kapitel gewidmet: „Externed by Hitler, interned by the English ... Ich protestierte in aller Form gegen diese Gleichschaltung und Gleichbehandlung mit den Feinden Englands“, so der österreichische Anthropologe Wilhelm Koppers in dem Buch „Geheimnisse des Dschungels. Eine Forschungsreise zu den Primitivstimmen Zentral-Indiens 1938/39“, Luzern 1947. Gemeint ist Folgendes:. Die Briten unterschieden in den Lagern nicht immer zwischen den politisch oder rassistisch Verfolgten des NS-Regimes und den Agenten der NSDAP, die schamlos versucht hatten, ihre Propaganda in die höchsten englischen Kreise zu tragen. (S. 114-121 sowie Kapitel „Internierung“ S. 181-208, mit Details über Unterbringung, Ernährung, Familienzusammenführung). Die Autorin ergänzt: „Hinter vielen Namen verbergen sich ganze Flüchdlingsfamilien im indischen Exil.“ Zunächst jedoch mussten die Exilierten das Land erreichen. Dies war möglich über bestimmte Fluchtnetzwerke, über Solidarität unter Wissenschaftlern, Künstlern, Ärzten, auch durch religiöse oder Gesinnungs-Netzwerke, wie Margit Franz sagt, etwa die — keineswegs homogenen — jüdischen Gemeinden oder die Freimaurer. Diese Darstellung (Kapitel Politische und soziale Rahmenbedingungen für ein Exil in Indien, S. 47-121) beleuchtet nicht nur das Zufluchtsland, sondern auch die Vorbedingungen für die Verfolgten in ihren Herkunftsländern. Das enorm materialreiche Werk enthält auch Porträt- und Gruppenfotos. Überraschend ist die erste der etwa 60 Abbildungen: Zwei ältere Herren, der eine mit weißem Vollbart und weißer Haarpracht in indischer Kleidung, der andere mit dunklem Schnurrbart und ebenso weißer Lockenpracht im Anzug mit Weste und Krawatte. Es sind Rabindranath Tagore und Albert Einstein, aufgenommen in Berlin 1930 (S. 15). Im Kapitel „Indien — Zentraleuropa: Begegnungen der Zwischenkriegszeit“ (S. 13—47) gelingt es der Autorin sehr anschaulich und sehr präzise, „Kooperationen, Austausch, Wissensund Technologietransfer, Geschäftsverbindungen in verschiedensten Bereichen sowie persönliche Beziehungen“ zu schildern, wie sie dann später dienlich waren für die Zuflucht der Verfolgten. Tagore (1861 — 1941), ein in Österreich und Deutschland hochgeschätzter Autor, passte ins Bild jenes modernen „Orientalismus“, der etwa die indische „alte Hochkultur“, ihre „wahre Religiosität“ verklärte im Gegensatz zum Bild des „verfallenden deutschen und österreichischen Grofreiches“ (S. 23). Einstein (ab 1933 im Exil 96 _ ZWISCHENWELT in den USA) stand schon in Deutschland in wissenschaftlichem Kontakt mit dem jungen indischen Physiker Satyendra Nath Bose. Max Born, der ebenso berühmte Kollege Einsteins, war einige Jahre im indischen Exil, ehe er 1936 nach Großbritannien zurückkehrte, wohin er 1933 von Göttingen vertrieben worden war. Die Autorin bringt noch viele andere Beispiele von „transnationalem Gefüge an wissenschaftlichen Verbindungen“ als typisch für die „beginnende beschleunigte Globalisierung der Zwischenkriegszeit“ (S. 16). Aber auch andersherum ging es: Die dem Nationalsozialismus nahestehende Ideologie der Suche nach eventuellen „Ur-Ariern“ bediente sich Indiens als idealisierter Projektionsfläche (S. 44f.). Tourismus fand umgekehrt ebenso von Ost nach West statt: Reiche Inder kamen etwa nach Bad Gastein zur medizinischen Behandlung. Wohin wanderten die Exilierten aus, wo fanden sie Wohnung und Arbeit? Schwerpunkt war Bombay mit 40 Prozent. Es folgte Calcutta mit 18 Prozent, und zwar „in Verbindung mit dem tschechischen Schuhkonzern Bata“, dessen jüdische Inhaber schon vor ihrer Vertreibung in Indien — wie auch in Kanada und Großbritannien — Firmen gegründet hatten ($. 135, 145f.). Welche Berufe hatten die Einwanderer? Es gab „neben einem hohen Anteil an Missionaren und Ordensschwestern in Pflegeberufen, die im ländlichen Bereich siedelten, eine Mehrheit in technischen (Elektrotechniker, Chemiker, Ingenieur) und Handwerksberufen (Holzverarbeitende Industrie, Glas- und Schuhherstellung), gefolgt von medizinischen Tätigkeiten (Arzt, Krankenschwester), dem Handelsgewerbe und künstlerischen Berufen (Werbegrafik, Fotografie, Musik). Diese kreativen Tätigkeiten generierten auch selbstständige Unternehmen“ (S. 135). Ein Beispiel ist etwa der deutsche Fotograf Ernst Norbert Schäffer, der kriegsbedingt ab 1939 kein Fotomaterial mehr bekam. Schon 1936 schufer für die Metropole den ersten Reiseführer „Pictorial Bombay“, der ein großer Erfolg wurde; der Verfasser gehörte zu den im Jahr 1939 Eingebürgerten und nannte sich dann Ernest Nathan Shaeffer (Britische Einbürgerungslisten 1939 bis 1940, S. 381-387; insgesamt 50 Namen samt Herkunftsland und Beruf). Er und viele andere Personen verloren nicht nur ihre früheren Lebensumstände, sondern mussten mit den sprachlichen, sozialen und nicht zuletzt klimatischen Hindernissen eines „rätselhaften heißen“ und fremden Landes zurechtkommen. Es ist ein großes Verdienst der Autorin, nicht nur die vielfältigen Leistungen der Exilierten, sondern auch die Anstrengungen jener indischen Leute zu schildern, die zur Aufnahme der europäischen Flüchtlinge beitrugen. Teils war dies durch die Eingliederung in Arbeitsprozesse möglich, teils sogar in Familienverbände durch Heirat. Unmöglich, viele Einzelheiten zu schildern - stellvertretend seien einige Schicksale noch erwähnt. „Walter Langhammer als Lehrer, Rudi von Leyden als Kunstkritiker und Emanuel Schlesinger als Kunstsammler, zusammen mit Kathe Langhammer als emotionales Bindeglied, waren wichtige Forderer der Progressive Artists‘ Group“ in Bombay. Der aus Graz stammende Maler Langhammer (1905 - 1977) floh 1938 mit seiner Wiener Frau aus jüdischer sozialistischer Familie. Der deutsche Geologe Rudolf Reinhold von Leyden (1908 - 1983), 1933 aus politischen Gründen emigriert, fand Aufnahme bei seinem Bruder Albrecht Robert von Leyden, der in Bombay für die Firma Agfa Photo Co. tätig war. Emanuel Schlesinger, jüdischer Hutfabrikant aus Wien, unterstützte wie Langhammer und von Leyden die Aktivitäten junger indischer Künstler. Sie halfen dadurch, politisch gesehen, beim nationalen Aufbruch des Landes und beim „Bruch mit den kolonialen Strukturen“ (S. 288-302). Die Kunstsammlung des enteigneten Schlesinger zu rekonstruieren, bezeichnet die Autorin als noch nicht gelungen. Spuren der Wirkung der drei Männer reichen in Indien weit über ihre Jahre der Emigration hinaus. Außergewöhnlich ist auch die Biographie von Karl Petrasch (später Charles Petras), Sohn eines Fassbinders und „sozialistischer Weltbürger mit Geburtsort Wien“ (1906 - 1952 in New Delhi, S. 248-266). Bereits 1931 hatte er in London den für eine Konferenz angereisten Mahatma Gandhi interviewt. 1935 brach er von Paris aus nach Indien auf. In Bombay und Delhi gründete er das Institute for Foreign Languages als interkultureller Kultur-und Kunstvermittler. Zum Kulturtransfer trugen auch einige Architekten bei, so der aus Wien stammende rassistisch verfolgte Hans Glas (1892 - ca. 1965), dessen „Hindustan-Building“ (1943) in Calcutta, auch ein Eckhaus, die Autorin als ebenso bedeutendes Zeugnis der Moderne wie das Adolf Loos-Haus in Wien am Michaelerplatz bezeichnet ($. 303-309). Bereits im Jahr 1922 hatte übrigens in Calcutta eine Ausstellung von Künstlern des Weimarer Bauhauses stattgefunden; Tagore war der Vermittler, die Initiatorin war Stella Kramrisch (1896 — 1993), Spezialistin fiir indisch-buddhistische Kunst, ab 1923 als Professorin in Calcutta. Die Kunstsachverständigen in Indien waren damals von der Kunst von Lyonel Feininger, Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Paul Klee und anderen Bauhauskünsdern schr begeistert, man stellte eine gewisse Verwandtschaft „der deutschen Abstrakten“ mit der eigenen Kunst fest, die als flächig-zweidimensional interpretiert wurde, im Gegensatz zu der als „realistisch-dreidimensionalen“ Kunst der Besatzer bzw. der britischen Kunst des 19. Jahrhunderts. (S. 71f.; vgl. auch den Sammelband „bauhaus global“, herausgegeben vom Bauhaus-Archiv Berlin, Berlin 2010; darin der Beitrag „Bauhaus in Kalkutta“ von Partha Mitter, S. 149-158). Ein Kapitel handelt vom „weiblichen Exil in der indischen Kolonialgesellschaft“ (5. 209-237). Alleinstehende Frauen hatten es in der repressiven Gesellschaft der Kolonialzeit besonders schwer; Ausweg bot die Heirat mit einem Inder. Beispiele solcher gelungener Rettung gab es. Aber es gibt den Fall der Stenotypistin Rachel Weiss (1906