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Weitere Flüchtlinge wurden verhaftet und wegen Schlepperei angeklagt, weil sie ihren Freunden in der Not geholfen hatten. Die Paul Grüninger Stiftung unterstützt den Widerstand dieser Flüchtlinge gegen unmenschliche Verhältnisse ...“ Das Stiftungs- und Preisgeld stammt übrigens aus der vom Großen Rat des Kantons St. Gallen 1998 den Nachkommen Paul Grüningers zugesprochenen „materiellen Wiedergutmachung“ für die durch die fristlose Entlassung entstandenen Lohn- und Pensionseinbußen des Hauptmanns. Die Summe von 1,3 Millionen Franken ging auf Wunsch von Grüningers Familie zur Gänze an die damals gegründete Stiftung. Amos 0z im Gespräch mit Max Czollek Der israelische Schriftsteller Amos Oz und die Übersetzerin Mirjam Pressler sind die Preisträger des Internationalen Literaturpreises — Haus der Kulturen der Welt 2015. Aus diesem Anlass sprach Max Czollek mit Amos Oz über seinen neuen Roman „Judas“, dessen historische und literarische Referenzen sowie über den Stellenwert von Übersetzungen. Max Czollek: Lieber Amos Oz, ich gratuliere Ihnen und Mirjam Pressler zum Internationalen Literaturpreis 2015! Amos Oz: Vielen Dank! Laut eigener Darstellung interessiert sich der Internationale Literaturpreis für die Interaktion zwischen nationalen Kultur- und Denkökonomien. Meine erste Frage lautet deshalb: Wie wurde „Judas“ in Israel aufgenommen? Kontrovers! Wie fast alle meine Arbeiten, wie fast alles in Israel. Manche Interpreten lasen das Buch als politisches Manifest, andere wiederum waren unglücklich darüber, dass es sich nicht mit der gegenwärtigen politischen Situation in Israel befasst. Aber es gab auch positive Kritiken, sogar einige enthusiastische Reaktionen von Seiten der Leserinnen und Leser. Wurde das Buch denn viel gelesen in Israel? Ja, gemessen an israelischen Maßstäben war das Buch sehr erfolgreich. In acht Monaten wurden ca. 30.000 Exemplare verkauft, was beachtlich ist für so ein kleines Land. Ihre Bücher haben auch in Deutschland großen Erfolg. Für die Generation meiner Eltern war der wohl bekannteste israelische Autor Ephraim Kishon. Gibt es bei der deutschen Rezeption Ihrer Bücher einen Kishon-Effekt? Wissen Sie, es ist nicht an mir, die Frage zu beantworten, warum Deutsche die Dinge bevorzugen, die sie bevorzugen. Lassen Sie mich die Frage noch einmal anders stellen: Während die Stimmen israelischer Linker in Israel nicht viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ist das im Ausland anders. Ist das Ausland also gerade für Sie als meistübersetzter israelischer Autor eine Art Hallraum, um die eigene politische Stimme zu verstärken? Mir ist die Reaktion auf meine Bücher in einem Lokalblatt einer israelischen Kleinstadt wichtiger als eine Rezension in der New York Times, der FAZ oder im Guardian. Denn ich schreibe zuallererst für eine hebräischsprachige Öffentlichkeit, für Israelis. Möglicherweise ist die Rezeption meiner Bücher in anderen Ländern auch beeinflusst von meiner politischen Haltung. Aber steht dahinter wirklich ein Verständnis dieser Haltung oder cher eine vage Sympathie für ein moderates, friedliebendes Israel? Da bin ich mir nicht so sicher. Offensichtlich gibt es ein Missverständnis, insbesondere unter linken Intellektuellen in Europa, die annehmen, die israelische Linke sei ebenfalls eine pazifistische Bewegung. Das ist sie nicht! Für einen europäischen Pazifisten ist das ultimativ Böse Krieg. Für mich ist das ultimativ Böse Aggression. Und Aggression muss meiner Meinung nach manchmal mit Gewalt begegnet werden. Das ist ein wesentlicher Unterschied, der nicht immer verstanden wird. Der Blog zum Internationalen Literaturpreis vermerkt, dass „Judas“ ein neues Genre entwerfe, nämlich einen „postmodernen Realismus“. Dazu heifst es: „Die Postmoderne spielt mit der Kontingenz des Lebens, ihre Romane spielen mit dem Leser, der dieses Spiel nur beenden kann, indem er sich für eine bestimmte Lesart entscheidet.“ Wie würden Sie dieses Spiel spielen? Dieses Buch ist wie ein Kammermusikstück. Zunächst geht es um eine unerwartete Intimität, die sich zwischen drei schr unterschiedlichen Menschen entwickelt: einem jungen, revolutionären Idealisten, einem zynischen, ernüchterten alten Mann und einer tief verwundeten, wütenden Frau mittleren Alters. Die Ansichten dieser drei Menschen sind nicht nur sehr unterschiedlich, sondern stehen im Widerspruch zueinander. In dem Buch geht es um Loyalität, Betrug, Verrat, Enttäuschung und Desillusionierung. Dabei erzeugt es einen kaleidoskopischen Effekt, so dass man die Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen kann. Postmoderner Realismus also! Eine Frage zur Intertextualität: Bei der parallelen narrativen Konstruktion des Buches zwischen JudasGeschichte und dem Israel der Jahre 1959/60 musste ich an „Der Meister und Margarita“ des russischen Autors Michail Bulgakow denken. Auch bei Bulgakow handelt es sich darum, eine Gegenwart — in diesem Fall die russische vor dem Hintergrund von Jesu Verurteilung durch Pontius Pilatus zu verarbeiten. War Bulgakow ein Vorbild für Sie beim Schreiben des „Judas“? Sicherlich hatte Bulgakow einen gewissen Einfluss auf die Entstehung des Buches. Allerdings keinen allzu linearen. Bulgakows zentraler Protagonist in seiner Version der Passionsgeschichte ist Pontius Pilatus, nicht Judas. Wenn ich mich nicht irre, wird Judas in „Der Meister und Margarita“ nicht einmal erwähnt, zumindest spielt er keine wichtige Rolle. Darüber hinaus weist Bulgakow Jesus eine andere Rolle zu als ich — Jesus betritt die Bühne als ein Gott und verlässt sie als ein solcher. In meinem Buch betritt Jesus die Geschichte als Gott und verlässt sie als ein wundervoller Mensch. Das ist ein grundlegender Unterschied. Aber die Idee zu einer Parallelisierung einer problematischen politischen Realität mit Szenen aus dem Prozess und Tod von Jesus Christus verdanke ich sicherlich Bulgakow. Dezember 2015 5