Ich glaube ja nicht, dass mein Vater seine Frau gefragt hat, ob sie
mitkommen will. Wahrscheinlich hat er gesagt, sie müsse wissen,
was sie will. War es Überzeugung, war es Liebe oder Illusion, als
sie ihm nachreiste? „Sie hat sich gefügt“, was hätte sie auch tun
sollen? Hätte sie als Kuchenverkäuferin oder Putzmamsell allein
mit den Kindern in London bleiben sollen, wo ja auch nicht alle
Zuwanderern und Juden gegenüber freundlich gesinnt waren?
Für sie war die Erinnerung an das Wien ab 1938 viel trauma¬
tischer als für meinen Vater, der als Kämpfer und Aktivist für
alles eine vernünftige Erklärung hatte. Soviel ich weiß, hat sich
die Familie bei der jüdischen Gemeinde registrieren lassen; man
kam nur so an die nötigen Hilfen für die erste Zeit; ob sie aus der
Kultusgemeinde ausgetreten sind oder ausgetreten wurden, weil
die jüdische Gemeinde an diesen unjüdischen Rückkehrern nicht
interessiert war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.
Es gab auch unter denen, die überlebt haben, viele unterschied¬
liche Arten, jüdisch zu sein. Um aus einem Interview zu zitieren,
das ich für eines meiner Bücher gemacht habe: Die Einzigen, die
wussten, was ein Jude ist, waren die Nazis — die es im Nachkriegs¬
österreich noch reichlich gab. Sie erkannten noch Juden, auch
kleine im Exil geborene Jüdinnen, an ihrem Namen und Ponim
und behandelten mich so, wie sie es von ihren Eltern gelernt hatten.
Das unterschiedliche Selbstverständnis der Rückkehrer hat sich
auf die Wahrnehmung und auf die Erzählungen ausgewirkt, die
später aus diesen Erlebnissen gemacht wurden. Mein Vater, der
sich (zumindest bis ins hohe Alter, als er dann doch wieder in die
Jüdische Gemeinde eintrat) nicht als „Jude“ sah, betonte immer
wieder, er habe keine Diskriminierung im Nachkriegsösterreich
erlebt. Meine Mutter erzählte von den ehemaligen Nachbarn,
auf deren Schreibtisch sie den Briefbeschwerer ihres - inzwischen
ermordeten — Vaters sah, von chemaligen Nazis als Professoren an
der Universität und von Genossen, die aus ihrem antisemitischen
Herzen keine Mördergrube machten. £r fühlte sich gebraucht,
sie fühlte sich keineswegs willkommen.
Gesprochen haben wir über derlei Dinge erst sehr spät, als ich
mich im Gefolge der Studentenbewegung dafür zu interessieren
begann und es auch in Österreich Diskussionen und Veranstal¬
tungen gab, die Nachfragen provozierten.
Seit ich diese Zusammenhänge von Erinnerung und Selbstbild
kenne, schwanke ich zwischen Empathie und Misstrauen, wenn
ich Geschichten über Erlebnisse aus der Nachkriegszeit höre und
lese. Das trifft auch für meine eigenen Erinnerungen zu, an lustig
gemeinte antisemitische Äußerungen und meine, wie ich mir
einbilde, selbstbewussten Reaktionen darauf. In diesem Punkt
bin ich froh, dass mein Vater mehr Einfluss auf mich hatte als die
viel verletzlichere Mutter. Er hat uns gelehrt, man müsse klüger
sein als die verhetzten Überbleibsel einer vergangenen Zeit, ich
soll sie aufklären, lernen, mit gutem Beispiel voranzugehen. Sie
hat, wenn ich nachfragte, schnell geweint.
Wäre diese sogenannte ‚erste Generation‘ empfindsamer gewesen
und schon nach ihrer Rückkehr so erinnerungsfreudig, wie das
erst Ende der 1980er Jahre möglich und nach und nach sogar
erwünscht war, hätten sie es wahrscheinlich in Österreich gar
nicht ausgehalten. Der manchmal anstrengende Blick nach vorn
samt ideologisch unterfüttertem Zukunftsglauben dieser Remig¬
ranten war, denke ich, ein Überlebensmittel. Eine Betreuung für
Traumatisierte gab es damals noch nicht.
Anlässlich dieser Veranstaltung und an Theodor Kramer denkend
sinniere ich über die Frage, was aus mir und andererseits aus
Österreich geworden wäre, wenn all diejenigen, die man jetzt
Remigranten nennt, richt zurückgekommen wären.
Ich fange dort an, wo inzwischen viel Tinte oder Drucker¬
schwärze drübergeflossen ist. Österreich ohne Remigranten. Es
wäre vermutlich noch rassistischer und autoritärer, als es bis weit
in die 1980er Jahre war. Was ich immer dann gerne betone, wenn
meine deutschen Freunde mit nackigem Finger auf das unaufge¬
klärte Österreich zeigen: Alle, die sich — angeregt von amerika¬
nischen, deutschen, skandinavischen Aufbrüchen (ob politisch,
in der Musik, im Geschlechtsleben oder auch nur lesend) für die
jüngste Vergangenheit interessierten, sind über kurz oder lang auf
einen von diesen assimilierten linken Remigranten gestoßen, die
häufig jüdisch waren, aber weder den antisemitischen noch den
philosemitischen Klischees entsprachen. Emanzipierte Frauen,
unreligiöse Juden, Nicht-Nazis... Also aufrechte Menschen ihrer
Elterngeneration, die in der sogenannten „normalen“ Bevölkerung
schwer zu finden waren. Auch wenn viele der linken Remigran¬
ten bis 1956 und manche bis 1968 auf dem linken Auge blind
waren, Rassisten waren sie nicht. Selbst wenn sie von der Nazi¬
zeit sprachen, taten sie das oft mit jenem speziellen Humor, von
dem ich nicht weiß, ob er jüdisch oder altkommunistisch ist. Sie
waren gegen Nazi-Professoren wie Borodajkewycz, haben gegen
asoziale Mietrechtsgesetze protestiert (ich erinnere mich an das
Transparent, das mein Vater, waghalsig aus den Fenstern hängend,
quer über unser Wohnhaus gespannt hat), allerdings auch für den
Sozialismus in Ungarn. Sie haben Elternvereine gegründet, sind
gegen prügelnde Lehrer eingeschritten und haben dann durch
ihre Kinder, aus denen Ärzte, Journalistinnen, Künstlerinnen,
Lehrer und sonstwie bedeutende Persönlichkeiten wurden, weit
mehr Einfluss gehabt als statistisch erfassbar. Ohne Remigranten
hätte es auch keine Regierung Kreisky mit all ihren Reformen
und Projekten gegeben (zu denen, wie ich neulich erfuhr, auch
die allseits beliebte Donauinsel gehört).
Wenn ich darüber nachdenke, was aus mir geworden wäre, falls
wir in England geblieben wären, so denke ich daran, dass meine
Eltern dort ja Gastarbeiter waren... (wiewohl es mein tüchtiger
Vater als Arbeiter in einer Metallwarenfabrik zum Betriebsratsob¬
mann gebracht hatte). Meine Mutter, die nach vielen — mehr und
weniger grauslichen — Jobs im Austrian Centre Kuchen verkaufte,
hätte vermutlich nicht studieren können. Wir Kinder wären wohl,
wie die Cousins und Cousinen, die in England, USA und Israel
aufgewachsen sind, gewöhnliche kleinbürgerliche Hausfrauen
geworden. Wir hätten uns vielleicht manche „Identitätskonflikte“
und Therapien erspart— und die Auseinandersetzungen, die ich mit
antisemitischen Linken und philosemitischen Kindern von Nazis
erlebt habe, wären mir entgangen (und es wäre manches Buch,
das Folge der Konflikte und Projektionen ist, die ich mit meinem
„schönen jüdischen Namen“ erlebt habe, nicht entstanden).
Komischerweise liebe ich England, wo ich geboren wurde, samt
Muff der inzwischen elektrifizierten Kamine und geblümten
Polstermöbel. Mein Leben wäre vielleicht ruhiger, bequemer,
womöglich „netter“ geworden — und mir wäre vieles entgangen.
Insofern ist mein Verhältnis zu dieser Riickkehr ambivalent — und
Ambivalenz ist eines meiner Lebensthemen geworden.
Die Welt ist nicht mehr so eindeutig, wie sie im Kalten Krieg
schien, es gibt so viele Optionen, kaum je nur eine richtige