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Gerda Spiegler

Dreiviertel sechs in der Früh, Jänner 2001, in meiner kleinen
Dreizimmerwohnung in Tel Aviv. Ich stehe auf, mache mich
zurecht und brühe schnell Tee für die Thermosflasche. Und schon
läutet es. Mein erster Schüler, ein junger Fabrikbesitzer, ist da.

„Weißt du“, sage ich, „es kommt mir vor, wir sitzen da auf
einer gottverlassenen Insel in tiefster Nacht, alles, weil du um
sieben Uhr im Sportclub sein musst, um deine alten Glieder zu
plagen.“ David ist dreißig, ein edler „Sabre“ mit vier Kindern. Er
lacht. Wir trinken Tee. Meine selbstgebackenen Kekse stehen seit
gestern Abend auf dem Tisch. Die Brösel fallen auf den Wiener
Perserteppich, geboren 1924, also ein Jahr vor mir. Der Herr
Schüler schimpft laut in klassischem Hebräisch.

„Dieser Kunde aus Korea meint, dass unsere Preise zu hoch
sind! Dabei produzieren wir das beste Plastikgeschirr im Mittle¬
ren Osten...“ Also antworten wir dem bösen Kunden in Korea.
Das heißt: Ich diktiere in tadellosem Englisch und Herr David
schreibt — mit Fehlern natürlich. Die darf ich dann, nachdem er
weggegangen ist, ausbessern. Schließlich beglückt er mich um
dreiviertel sechs Uhr früh drei Mal die Woche. Und zahlt gut.

„Gehst du jetzt schlafen?“ Er fragt mich das beim Weggehen
an der Eingangstüre, kaut dabei ein Keks und lacht mich an. Da
läutet es durch das Interkom von unten. Es ist zehn nach sieben.

„Schlafen?...“ Mein nächstes Opfer, ein „Aluf“, ein General
bei unserer Armee, das sind meine liebsten Schüler.

David geht und Daniel kommt. Daniel ist Mitte 50, ich bin 75.
Er tritt in seiner khakifarbenen Uniform und in seinen schweren,
schwarzen Stiefeln mit Riesenschritten in das elegante Wohnzim¬
mer. Die Glastüren meiner feinen Wiener Vitrine, ererbt von
meinen Eltern, zittern leicht und ich hole sein Frühstück aus dem
Kühlschrank: in Olivenöl und Tomaten geröstete Auberginen
(heißen „Chazilim“ auf Hebräisch) auf getoasteter Pizza, eine
arabische Spezialität. Schr schmackhaft, sündhaft scharf. Der
General schmatzt mit Andacht. Seit gestern Abend ruhten die
Brote im Kühlschrank.

„Coffee, please“, kommandiert er, als wäre ich ein Wiener Kaf¬
fechaus. Ich lege eine kleine Pause ein, um seine Dekorationen
zu beäugen. Sie hängen auf seiner Heldenbrust in bunten Farben
und ich zähle: Sieben sind es.

„Ich hab’ nur Tee“, sag’ ich sehr zahm. „Coffee, please“, kommt’s
noch einmal aus vollem Mund und ich marschiere in die Küche,
mache schnell einen dicken Türkischen mit drei Löffel Zucker
und serviere ihn in einem Wiener ,, Haferl“, einer bauchigen Por¬
zellantasse. Sie ist so groß wie ein kleines Münchener Bierkrügel.

„Stell’ dir vor, Gerda, ich muss eine Rede halten! Wir haben Aus¬
landsbesuch im Ministerium: Fünfzehn amerikanische Generäle
kommen zu uns, um sich über unsere neueste Nahoststrategie zu
erkundigen. Meinst du, ich kann das schaffen?“ Er sagt das alles
in einem ganz akzeptablen Englisch.

„Natürlich kannst du. Du lernst bei mir schließlich schon seit
zwei Jahren und du darfst mir keine Schande machen. Ich arbei¬
te mit euch wilden Eingeborenen seit 15 Jahren und will nicht
ausgelacht werden. Alte Wiener Damen müssen auf ihren guten
Ruf achten.“

68 _ZWISCHENWELT

Wir fabrizieren also eine Rede. Alles, was ein offenes politisches
Geheimnis darstellt, ist drin. Ich lese laut vor, er wiederholt. Es
klingt elegant und professionell.

„Another coffee, please...“ Die Brote sind verschwunden und
er macht sich über die drei Kekse her, die noch auf dem Glasteller
thronen.

„Im Sommer soll ich auf einen Englischkurs für Ausländer
nach London fahren. Alles wird von der Regierung bezahlt. Was
hältst du davon?“

„Gar nichts. Du bist da in einer Klasse mit noch zwanzig Schü¬
lern aus aller Herren Länder und die Lehrerin ist sicher blutjung
und hat keine Ahnung von Unterrichten. Bleib ruhig bei diesem
antiken Wiener Möbelstück, das Gerda heißt, und spare unserer
Regierung die Dollars. Mit Reden halten oder ohne. Ich hab’ die
‚New York Times bestellt...“

„Another coffee, please.“ Es ist zehn nach neun. Ich gähne, er
hat verstanden und geht. Ich gehe in mein Zimmer, zieh mir die
Schuhe aus, schlüpfe in meine „Patschen“, meine roten, jeme¬
nitischen, handbestickten Hausschuhe und setze mich an den
Küchentisch, um ein israelisches Frühstück zu genießen: eine
gewärmte Pita, eine Handvoll Oliven, eine halbe Tomate und ein
dickes Stück Ziegenkäse. Dazu trinke ich das bissl Türkischen,
das noch im Topf übriggeblieben ist. Dann erlaube ich mir eine
amerikanische Zigarette... Im Vorzimmer läutet das Telefon.
Ich springe auf, die Beine tun mir weh, ich habe schließlich seit
Jahren eine leichte Arthritis. Die Simme am Apparat kenne ich.

„Also stell’ dir vor Gerda, ich komm’ nicht nach Singapur,
ich werde nach Australien geschickt. Man braucht mich dort
an der Botschaft als Militärattach£. Ist das australische Englisch
wie deines?“

„Meines ist auch nicht perfekt, Schimon, obwohl ich zwanzig
Jahre in New York gelebt und unterrichtet habe. Ich hab’ einen
Wiener Akzent. Aber ich glaub‘, dein Englisch ist gut genug für
den Job. Schau zu, dass man dir noch dreißig Stunden erlaubt.“

„Die hab’ ich schon im Sack, kann ich morgen um acht Uhr
abends kommen?“

„Ja. Aber bitte bleib’ nicht länger als bis halb zehn, denn ich
muss um halb sechs Uhr früh aufstehen.“

„Ich bring’ frische Kümmelbrötchen mit, mit Zaatar, du weißt
doch, dieses arabische Gewürz, das wie Pfeffer ausschaut und das
wir in Israel so gern haben. Hast du Butter im Haus?“

„Butter und Ziegenkäse. Aber ich mach dir nicht mehr als einen
Türkischen. Sonst rennst du mir zu oft auf die Toilette.“
„Einen“, sagt er, lacht und hängt auf.

Nun, wir lernten brav weiter, ich holte mir von der australischen
Botschaft die „Sydney Times“ und er und ich waren zufrieden.

Drei Monate waren im Nu vorbei, da kam ein Anruf um zehn
Uhr abends, beginnend mit einem Lachen.

„Gerda, sitzt du oder stehst du? Falls du stehst, halt’ dich fest. Es
geht nicht nach Singapur und nicht nach Australien. Es geht nach
Paris. Gott sei Dank, ich muss mir keine andere Lehrerin suchen,
so ein Masl! Ich hab’ fünfzig Französisch-Lehrstunden und einen
Plan von Paris bekommen. Meine drei Kinder werden dort in die
Internationale Schule gehen. Dort wird alles teils auf Englisch,
teils auf Französisch unterrichtet. Kannst du sie vorbereiten?“