OCR
bewirkt, mit ihr angerichtet hat. Man spürt als Leser unwillkürlich von Beginn an, wie sehr die Korrespondentin nachvollziehbar geschockt und traumatisiert ist von dem, was sie gesehen und erlebt hat. Vom Hass, der aus Menschen spricht, vom Leid, das Menschen zugefiigt wird. Schon der erste Brief beginnt mit dem Satz, „der Krieg ist bei mir angekommen“. Und sie präzisiert: „Er beginnt für mich jeden Tag neu. Ich muss keinen einzigen Schritt aus dem Haus tun, keine Reise machen, keine Frontlinie überschreiten, der Krieg ist da, bei mir im Haus, in jedem Zimmer, im Keller und unter der Bettdecke.“ Und sie wird später erwähnen, dass ihr all die grausamen kriegerischen Umstände nervlich derart zusetzten, dass sie sich zwischendurch eine zusätzliche Auszeit nehmen musste, um zu versuchen, sich in Wien behandeln zu lassen. Und man kann dem Text unschwer entnehmen, dass diese Erschütterungen bis heute wirken. Aber es wurde kein solches Buch. Sondern Seyr hat ihr eher flüchtig geschildertes persönliches Erleben mit ihrer Involvierung als Journalistin gemixt und mit den jahrzehntelang eingeübten und bis zuletzt erneuerten österreichischen Feindbildtraditionen ausstafhert. Und das in einem angeblichen „Bewältigungsbuch“, einem „Selbstheilungsversuch“ (395), wobei sie bisweilen jene Wahrheiten schildert, um die sie sich drückt. Beispiel 9: Brief, Weihnachten 1992, Sondersendung von „Licht ins Dunkel“ aus Belgrad. Die Korrespondentin berichtet: „Man will von mir ein paar Flüchtlingsgeschichten mit einem Live-Einstieg als Beilage zur Weihnachtsgans oder zum Karpfen. Schon im Vorfeld gab es viel Ärger. Die Redaktion sprach offen aus, dass keine serbischen Flüchtlinge vorkommen dürfen, weil die Österreicher dann nicht spenden werden. Ein großzügiger Sponsor habe sogar seine Zusage zurückgezogen, als er erfuhr, dass von den Spenden auch Serben etwas bekommen sollten. (...) Hier hast Du wieder ein einheimisches Beispiel aus der Gattung Irrwitz des Tages: Flüchtlingsgeschichten aus Serbien ohne Flüchtlinge? (...) Die Initiatoren von ‚Nachbar in Not‘ und Caritas, Peter Quendler und Franz Küberl, konnte ich überzeugen, dass das individuelle Flüchtlingselend auf serbischer Seite mindestens ebenso groß sei wie in Kroatien und Bosnien. Die Not ist unteilbar, haben sie auf einer Pressekonferenz gesagt... Das kam gut an; die austrijanci wurden damit in der notorisch anti-ésterreichischen Parteizeitung ‚Politika‘ zitiert. (...) Ich beobachte ständig, dass die serbischen Flüchtlinge noch schlechter dran sind als alle anderen.“ (103) Statt nun den Gründen für diesen „Irrwitz“ nicht nur „des Tages“, sondern von Jahren nachzugehen, statt sich zu fragen, weshalb „die Österreicher“ zwar an Kroaten und Bosnier, nicht aber an Serben spenden wollen, und ob da vielleicht ein „Irrwitz“ von Jahrzehnten mitspiele, an dessen Aufrechterhaltung oder Bestärkung sie selbst beteiligt gewesen sein könnte, landet sie schon im darauf folgenden Absatz wieder bei „den Serben“, speziell der Verquickung der 80 _ ZWISCHENWELT bosnischen mit den Belgradern. Am deutlichsten wird Seyrs Abwehr schmerzhafter Wahrheiten dort, wo sich all ihre Aggressionen gegen einen Landsmann entladen, der sich als Einzelner mit nahezu allen medialen Trompeten zumindest der meisten europäischen Länder angelegt und in die Nesseln gesetzt hatte, Peter Handke. Als dieser 1996 (zu Beginn dieses Jahres war seine „Winterliche Reise“ erschienen) für einige Tage nach Belgrad kommt, sehnt sich die ORFKorrespondentin nach einem „Trauminterview“ (333) - und wird maßlos enttäuscht: „‚Ah, das Verbrecher-Fernsehen ist auch schon da’, sagt Handke, noch bevor die Kamera eingeschaltet ist. —, Wie bitte, warum Verbrecher-Fernsehen?‘ Ob er denn weiß, was ich in den letzten fünf Jahren gemacht habe? Kann er in Paris meine Beiträge schen und hören? - ‚Ich kenne euch ja, ihr seid ja alle gleich.‘ (...) Handke ist mir gegenüber vom ersten Moment an bissig, bösartig und feindselig.“ (5.331) — Als ob man ihre Berichte gesehen haben musste, um zu wissen, welche Propagandawirkung die Art der Berichterstattung in nahezu allen westeuropäischen Hauptstädten damals hatte. Man muss kein Freund Handkes sein, um Seyrs Art der Auseinandersetzung mit diesem Schriftsteller für mehr als fragwürdig zu erachten. Man hätte beispielsweise auch einen anderen Künstler, den bayrischen Schauspieler Josef Bierbichler, hören können, der drei Jahre danach, 1999, im Zusammenhang mit dem Kosovo „die Mitmacher der Verdummungsfabrik Fernsehen“ geißelte. (Der Spiegel 43/1999). Oder, wenn sie solchen Künstlern misstraut, den damaligen UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, der im Mai 1993 in Bezug auf Jugoslawien konstatierte und klagte: „Die Medien geben heute nicht einfach die Nachrichten wieder. Das Fernsehen ist ein Teil der Ereignisse geworden, über die es berichtet. Es hat die Art und Weise verändert, wie die Welt auf Krisen reagiert.“ So zitiert ihn der US-Amerikaner Peter Brock in der Züricher „Weltwoche“ Nr. 3/94. Seyr hört und sieht nichts davon, sondern sie lässt nun Handke für seine „Frechheiten“ büßen. Ihr Bericht im Buch über dessen Belgrad-Besuch beginnt so: „Liebe Katja, endlich ist ER da! Endlich habe ich IHN kennengelernt, IHN gesehen und mit IHM gesprochen! Peter Handke hat Belgrad besucht. (...) Er reitet ein wie der Messias in Jerusalem ... Der Rächer der Weltverschwörung gegen die Serben wird in einer öffentlichen Zeremonie vom Volk heilig gesprochen. (...) Dem Dichterdavid (werden) Rosen gestreut. (...) Der Erlöser begründet seinen ‚Privatbesuch‘ mit dem Satz: ‚Ich bin es diesem Land einfach schuldig.‘“ (328 f.) Seitenlang zieht sich Seyrs von Verachtung getragene Abrechnung mit Handke. Dabei schreckt sie auch vor Kuriositäten nicht zurück, die mit umso größerer Wucht auf sie selbst zurückfallen: „Ich bin versucht, ihn zu fragen, warum er nicht früher nach Serbien und Bosnien gekommen ist, vielleicht schon während des Krieges und nicht erst danach. Warum seine Wut über die Berichterstattung so spät ausgebrochen ist?“ (332) — Das schreibt dieselbe Person, die zuvor über Österreichs damaliges Nachbarland Jugoslawien geschrieben hatte: „Ich tadle mich selbst, weil ich um Jugoslawien immer einen Bogen gemacht habe. Ein einziges Mal musste ich mich über den schrecklichen dreispurigen Autoput von Nord nach Süd quälen, mit zusammengebissenen Zähnen und beinahe geschlossenen Augen, um auf dem schnellsten Weg nach Griechenland zu gelangen, wütend über den ungenießbaren Kaffee, die gefälschten Marlboro und zerkochten Spaghetti in süßlicher Ketchup-Sauce. (...) Auch politisch interessierte mich Titos ‚dritter Weg‘ nicht. (...) Darüber hinaus hatte ich kein besonderes Wissen über Jugoslawien.“ (51) — Sie hat sich für's Nachbarland nie interessiert (sondern erst, als sie beruflich gezwungen war) und hält Handke, der nachweislich schon lange vor ihr wenigstens Teile dieses Landes kennengelernt und liebgewonnen hatte, mangelndes Interesse vor. Und Seyr lässt es sich auch nicht nehmen, Handke „Sachfehler“ nachzuweisen. Sie hält ihm beispielsweise vor, dass er in Frage stellt, ob „die serbokroatisch sprechenden, serbischstämmigen Muselmanen Bosniens denn nun ein Volk sein sollten“ (Eine winterliche Reise, S.38) und kontert: „Das Parlament der Republik stellte bereits 1966 fest, dass in Bosnien-Herzegowina drei Völker leben: Muslime, Serben und Kroaten, was die neue Verfassung des Gesamtstaates 1974 bestätigte.“ (372) — Wird neuerdings von Parlamenten entschieden, was „sachlich richtig“ ist? Er habe weiters eine „junge südslawische Nation“ ($.88) behauptet, die es nie gegeben habe. (373) Hat sie noch nie den Begriff „Staatsnation“ vernommen? Schließlich geißelt Seyr auch Handkes Beurteilung der Tätigkeit des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag über Jugoslawien als „Siegerjustiz“. (373) Gibt es dafür denn bis heute so gar keine Anzeichen? (Man muss übrigens kein Jurist sein, um die sonderbare Natur dieses Gerichts erkennen zu können: Die Anklage ist wunderbarer Weise Teil des Gerichts und sie ist der dominierende Teil, weshalb im ersten Jahrzehnt auch die Ankläger von Herrn Goldstone bis Frau Del Ponte immer als Berühmtheiten durch die Medien geisterten. Die Richterschaft ist vergleichsweise geradezu anonym. Des Weiteren besteht keine Gleichheit von Anklage und Verteidigung; wurde oder wird dieses oder jenes Land - in erster Linie Serbien, in zweiter Kroatien — gerüffelt, es müsse enger mit dem Tribunal kooperieren, so ist immer Kooperation mit der Anklage, nie mit der Verteidigung gemeint.) Der kurioseste Einwand Seyrs gegen Handke gipfelt in folgendem Satz: „Handke hat den Einsatz der Sprache als Waffe vor und im Krieg nicht erlebt und daher einfach nichts verstanden.“ (336) — Als ob nicht gerade die „Winterliche Reise“ sich auch mit der Sprache des Krieges beschäftigte. Ich habe bereits daraufhingewiesen, dass von Anfang des Buches an für Seyr der Hauptschuldige am jugoslawischen Desaster feststeht, Slobodan Milogevi¢é. Dabei nennt Seyr durchaus