vor Ort reichlich vorhandenen Rohstoff hole man gemeinsam bei
Nacht und Nebel aus Sümpfen und Küstenabschnitten.
Ehe sich der Zug weiter nach Witebsk und in nördliche Richtung
nach Russland windet, steige ich kurz vor Mitternacht in Polozk aus.
Ein knapp übermannsgroßer Lenin grüßt am Bahnhofsvorplatz. Auf
seinem Podest in einen Mantel gehüllt, bezeugt er die prägenden
Jahrzehnte des Kommunismus, der in diesem Land an vielen Ecken
noch offen hervorwinkt. Er zeigt sich dann auch ein zweites Mal im
Stadtzentrum, dort kleiner und im einfachen Sommerjackett. Das
rund 100.000 Einwohner zahlende Polozk in der nérdlichen Oblast
Witebsk ist eine beschauliche Provinzstadt mit einem gepflegten
Zentrum an den Ufern der Diina. Das Wasser steht Ende August so
niedrig, dass es den Ruderern gerade noch fur ihre Trainingseinheiten
reicht. Rudern, Langlauf und Eishockey — das sind die weißrussi¬
schen Paradesportarten, die mit großer staatlicher Förderung und
internationalem Erfolg betrieben werden. Die wenige Kilometer
entfernte Trabantenstadt Nowopolozk wurde in den 1950er Jahren
gegründet und beherbergt einen der größten Chemieparks Europas.
Von den am 11. Oktober abgehaltenen Präsidentenwahlen künden
im Spätsommer nur einige nüchterne Plakate in den Staatssprachen
Russisch und Weißrussisch. In einem Land, das einen so starken
Gegensatz zwischen ideologischen Modellen der Regierung und der
Opposition erlebt, lohnt ein Blick in die Geschichte als Ausgangs¬
punkt für diese Modelle. Während die Regierungsriege bis heute
das sowjetische Erbe und die Verbindung zu Russland hochhält,
greifen oppositionelle Gruppen bei der Suche nach alternativen
identitätsstiftenden Mustern gern weit in die Geschichte zurück.
Keine Stadt ist für eine derartige Rückschau besser geeignet als
Polozk: Gegründet im Jahr 862 ist sie die älteste des Landes und
bildet ab dem 10. Jahrhundert das Zentrum des Fürstentums Polozk
im losen Verband des ostslawischen Grofsreichs der Kiewer Rus.
Im Verlauf des 14. Jahrhunderts gerät die Region immer stärker
in den Einflussbereich des mächtigen Großfürstentums Litauen,
das seinerseits seit der Union von Lublin (1569) Bestandteil der
polnisch-litauischen Wahlmonarchie (Rzeczpospolita) wird. Im
Zuge der Teilungen Polens gegen Ende des 18. Jahrhunderts sichert
sich das Russische Reich die belarussischen Gebiete. Im Jahr 1918
kommt es zur Bildung der formal unabhängigen, de facto macht¬
losen Weißrussischen Volksrepublik, die bereits Anfang 1919 von
der Weißrussischen Sowjetrepublik abgelöst wird. Bis heute sind
die Nachwirkungen der russischen Zeit in der Identitätsfindung zu
spüren: „Die restriktive russische Sprachenpolitik des 19. Jahrhunderts
hemmte die Genese einer weißrussischen Nationsbildung“, so Prof.
Andreas Kappeler von der Universität Wien. „Anders als die Ukrainer
mit Galizien hatten die Weißrussen kein ‚Piemont‘ außerhalb des
Russischen Reiches, wo die ungehinderte Entwicklung von Sprache
und Identität möglich gewesen wäre. Man hört es in Weißrussland
nicht gerne, aber das nationale Bewusstsein wurde eigentlich erst
durch die Schaffung der Weißrussischen Sowjetrepublik erweckt.“
Polozk ist von Anfang an Teil dieser Republik, die 1922 Grün¬
dungsmitglied der UdSSR wird. Die südwestlichen Gebiete rund
um Grodno, Belostok und Brest kommen hingegen erst durch
den Hitler-Stalin-Pakt hinzu (und verbleiben, mit Ausnahme von
Belostok/Biatystok, auch nach 1945 bei der UdSSR).
Es ist heute gerade die Zeit mit Litauen, die auf’ der Suche nach
nationaler Identität von vielen als Blütezeit herangezogen wird.
Dabei spielen Sprachfragen eine wesentliche Rolle, führten doch
die litauischen Großfürsten mangels eigener Schriftsprache eine
dem Gebrauch der Bevölkerungsmehrheit nahestehende slawische
Sprache als Kanzleisprache ein. Diese vornationale Sprache weist
weißrussische und ukrainische Merkmale gleichermaßen auf. Von
nationalbewussten Forschern wird sie unter der Bezeichnung „Alt¬
weißrussisch“ gern als protonationale Sprachvarietät ausgegeben.
Zwei große Denkmäler erinnern in Polozk an die lokalen Helden
der Literatur- und Buchdruckszene des 16. und 17. Jahrhunderts:
Zunächst jenes für Francysk Skaryna (etwa 1490 — 1551) im Stadt¬
zentrum, gelegen am Platz und an der Flaniermeile, die beide seinen
Namen tragen. Als einer der ersten Humanisten unter den Ostslawen
wird der in Polozk geborene Skaryna vor allem als „erster Buchdrucker
Weißrusslands“ - als solcher wirkte er in Prag und Vilnius-undals
Bibelübersetzer gewürdigt: Das von ihm verwendete Kirchenslawische
weist weißrussische Elemente auf. Die zweite Polozker Größe ist
der Mönch Simeon von Polozk (1629 — 1680), sein Denkmal steht
zwei Steinwürfe von Skaryna entfernt, an derselben Flaniermeile.
Ausgebildet an der vom Geist des Humanismus geprägten russisch¬
orthodoxen Petro-Mohyla-Akademie in Kiew wurde er zu einem
der vielseitigsten Barockschriftsteller im östlichen Europa. Simeon
verfasste seine Verse zunächst in einem von weißrussischen und
ukrainischen Elementen geprägten Polnisch und später, nachdem
er von Zar Alexej I. als Lehrer an den Moskauer Hof geholt wurde,
verstärkt auf Russisch.
Für politisch oppositionelle Gruppen spielt die litauische Zeit nicht
nur in Hinblick auf kulturelle Vorbilder eine Rolle, hier geht es um
Abgrenzung vom starken Bruder im Osten. Das Großfürstentum
Litauen mit seiner jahrhundertelangen Gegnerschaftzum Moskauer
Staat kommt dabei als Identifikationsmodell zupass. Mit der Unab¬
hängigkeit im Jahr 1991 griff zunächst auch die Staatsführung auf
das alte litauische Wappen „Pahonja“ zurück. Es wurde gemeinsam
mit der weiß-rot-weißen Flagge verwendet, beides Staatssymbole,
die bereits in der kurzlebigen Weißrussischen Volksrepublik im
Jahr 1918 in Gebrauch gewesen waren. Über die Änderung dieses
Paradigmas unter Lukaschenko wird noch die Rede sein.
Nach der Konferenz geht es mit meinen Freunden Irina und Oleg
zum Grillen an einen idyllischen Sce am Stadtrand von Polozk. Anders
als viele Landsleute können die beiden über finanzielle Engpässe
derzeit nicht klagen: Die beiden Enddreißiger arbeiteten mehrere
Jahre im Tourismusbereich, unter anderem in grenzüberschreitenden
Projekten mit Litauen. Vor kurzem erhielt Oleg eine prestigereiche
Anstellung im Rahmen des UNO-Programms für Regionalent¬
wicklung. Ein Auto wurde gekauft, die Eigentumswohnung ist bald
bezugsfertig. Irina ist zufrieden. Sie ist zurzeit in Karenz, die Tochter
ist ein halbes Jahr alt. Die privilegierte Situation wissen die beiden
zu schätzen, dank eines Schengen-Jahresvisums können sie auch
jederzeit in die EU reisen. Viele Landsleute, so erzählen sie, fahren
zum Geldverdienen nach Moskau oder St. Petersburg. Politisch
denkende Menschen im engeren Sinn sind die beiden nicht: Oleg
befragt mich lang und breit, was es denn mit dem Wort „Koalition“
auf sich habe. Hier ist man an klare Machtverhältnisse gewöhnt.
Die zweistündige Fahrt im alten, aber blitzsauberen Dieselzug
von Polozk in die Oblasthauptstadt Witebsk kostet 12.000 wei߬
russische Rubel, rund 60 Eurocent. Der mir gegenüber sitzende