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On the whole, the misery we encountered in Paris was still of a frozen and subdued kind. Tragic defeat was not yet in the open. Therefore, the faces I remember from those early days appear to me plain and deeply worn; later reports alone have revealed to me the look of courage in the presence of death and defeat." Wie viele sah Ruth Domino in Frankreich 1938 noch einen Ort der Sicherheit. Das grausame Schicksal anderer berührte sie, und sie lebte doch wie in einem Idyll. Nur zu bald sollte es zerbrechen: „Dieses prekäre, doch einzigartige Idyll einer ‚großen‘ Zeit wurde plötzlich zerstampft, als die deutsche Armee die Maginotlinie umging und dann unter Hitler halb Frankreich besetzte.“? Flucht nach Südfrankreich Kurz bevor die deutschen Wehrmachtsverbände am 14. Juni 1940 Paris erreichten, floh Ruth Domino mit einem Fahrrad in Richtung Süden. Sie war nicht allein, eine junge Frau und ihr kleiner Sohn waren aufeinem zweiten Fahrrad bei ihr. Aufstaubigen Landstraßen entfernten sich die Menschen von der Stadt, während deutsche Flugzeuge Bomben warfen. Massenpanik und Angst prägten diese Momente, dennoch empfand Ruth Domino diese verzweifelte Lage nicht als trostlos, weil Mitleid und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit an die Stelle der einsamen Furcht traten. Die beiden Frauen und das Kind wurden drei Tage lang von einem französischen Militärlastwagen mitgenommen. Während die Soldaten das Kind wiegten und beruhigten, sprachen sie über das schwere Schicksal ihres Landes, über Gott und über den Tod. Für kurze Momente erlebte Ruth Domino das Gefühl der Einheit, doch sie wurde Zeugin vieler tragischer Schicksale und sah Mütter, die auf der Flucht ihre Kinder verloren hatten und sie nun überall suchten. Der Lastwagen fuhr durch Dörfer, wo Leichen aufden Straßen lagen, die Geschäfte geplündert wurden und Tiere herumstreunten. Nachts wurden die Flüchtlinge vom dröhnenden Geräusch der plötzlich auftauchenden deutschen Flugzeuge geweckt. Angstvoll starrten sie auf die Hakenkreuze am Himmel, bevor die Bomben fielen. Die Menschen reagierten auf unterschiedliche Weise: Manche tranken in euphorischer Verzweiflung den selbst hergestellten Wein, den sie bisher wie einen Schatz mitgetragen hatten, andere beteten, und einige der Älteren saßen nur da und sahen stumm vor sich hin. Ruth Domino suchte Schutz im hohen Gras der umliegenden Felder. Die Erinnerung an diese Nacht nimmt die spätere literarische Verarbeitung vorweg. So schreibt Ruth Domino 1950: The airplanes plunged down to the barn, flew up and came back again, raining destruction, forcing desperate piety or resignation upon us. It seemed that fear of God and fear of man had become one, leaving no space for other emotions.'° Ein ähnliches Gefühl übermächtiger Angst erscheint in der Erzählung „Ein jegliches hat seine Zeit...“ (1987). Diese Erzählung handelt vom Zusammentreffen der Ich-Erzählerin mit einem Juden, der ihr eine Taschenuhr verkaufen will und der gleich danach durch eine Bombe getötet wird. Die Ich-Erzählerin blickt auf die Uhr, die ihr der Mann entgegen hält, und sie beschreibt ihre Eindrücke folgendermaßen: Der Sekundenzeiger [...] jagte die Zahlen vor sich her, bis sie über den goldenen Rand zu fallen schienen; schwarze, schwere Tropfen, die sich bald über das Korn ergießen und zu einer düsteren Welle heranwachsen würden, eine große Leere vor sich herschiebend, die Leere der Angst, die den Feind nur noch unwiderstehlicher heransog, näher und näher.” 34 ZWISCHENWELT In der literarischen Verarbeitung wird die Angst in einen fiktionalen Rahmen eingebaut und die fallenden Tropfen werden in Beziehung zu den Zahlen auf dem Zifferblatt und somit zur Zeit und zur Geschichte gesetzt, während die Bomben im autobiographischen Text lediglich mit einem Zerstörung bringenden Regen verglichen werden. Aus einer vorherrschenden Emotion werden literarisch verarbeitete Bilder, die dem Leser die Tragik des Moments sinnlich vermitteln. Nach zehn Tagen erreichte Ruth Domino Südfrankreich. Die Stadt Toulouse war in jenen Tagen voller Flüchtlinge, die eine Unterkunft suchten. Spanische Flüchtlinge verwiesen Ruth Domino auf die Quaker, die sie schon anlässlich eines Schulausflugs in ihrer Jugend kennengelernt hatte. Das Haus der Quaker in Toulouse stand zwar nur spanischen Fliichtlingen offen, doch in Marseille befand sich eine Hilfseinrichtung fiir alle. Ruth Domino wollte sich dahin begeben, doch es sollte Monate dauern, bis sie dort ankam. Der Ehemann einer Freundin war unfern einer Kleinstadt am Fue der Pyrenäen interniert worden, und die Frau wollte den Kontakt zu ihm nicht verlieren. Ruth Domino beschloss, sie nicht allein zu lassen. Die beiden fanden in der Kleinstadt eine Bleibe bei einer großzügigen Wirtin, die im Ersten Weltkrieg ihren Mann verloren hatte und deren Sohn sich in deutscher Gefangenschaft befand. Das Rote Kreuz sorgte für die Verpflegung der Flüchtlinge in der Stadt, die ihrerseits den Bauern bei der Arbeit halfen. Auch hier verlief die Zeit für Ruth Domino nahezu wie ein Idyll, in dem sie einen Moment der Stillezwischen den Stürmen sah. Nur die Briefe, die die Wirtin aus Deutschland erhielt, erinnerten an die düstere Wirklichkeit. Ruth Domino wäre gerne länger an diesem ruhigen Ort geblieben, doch dann warnte jemand sie vor einer Verschärfung der Gesetze für ausländische Flüchtlinge, und aus Angst vor einer Internierung setzte sie ihre Flucht fort. Im Winter 1940 kam sie in Marseille an. Am Anfang wohnte sie in einem von der Polizei kontrollierten Hotel, und alle auslandischen Flüchtlinge bekamen Ausweise. In dieser prekären Situation fühlte sie sich zugleich frei und gefangen. Sie stellte einen Antrag auf einen Platz im Haus der Quaker und wurde schließlich für eine Aufenthaltsdauer von zwei Monaten aufgenommen. Kurz nach Ablauf dieser Zeit erhielt sie glücklicherweise ein mexikanisches Visum. Obwohl sie das Visum schon in der Hand hatte, fürchtete sie, nicht rechtzeitig fliehen zu können. Sie hatte vom traurigen Schicksal mancher Flüchtlinge gehört, deren Visum aufgrund bürokratischer Hindernisse abgelaufen war, ohne dass sie Frankreich verlassen hatten. Dazu kam die Angst, trotz eines gültigen Visums zurückgewiesen zu werden. Die Treppe, die vom höher gelegenen Bahnhof Saint-Charles in die Stadt hinunterführte, blieb Ruth Domino im Gedächtnis. Es gab zwei Möglichkeiten: „Solange man Ausweispapiere hatte, kam man von dort herunter, hinauf jedoch gingen wenige von uns Flüchtlingen. Entweder wollte man aufein Schiffoder man tauchte unter in die Resistance.“'? Die Angst, diese Treppe wieder emporsteigen zu müssen, quälte die Flüchtlinge, die aufein Visum warteten: „Wenn das Visum nicht rechtzeitigankam und es auch kein Schiff’ gab und der ‚Permis de s£jour‘ abgelaufen war, ging es in ein Lager, ein Durchgangslager und dann? Eine Frage, die Angstträume heraufbeschwor.“' Ruth Domino gelang es, einen Schiffsplatz zu bekommen. Sie fühlte sich dennoch weiterhin bedroht, bis sie dann in die USA gelangte. Diese Angst sollte nicht mehr von ihr weichen, und sie erscheint zum Beispiel auch in der Erzählung „Die Treppe“ (1990): „Obwohl die damalige Drohung und die damit verbundenen