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Artur Rosenberg
Gefangen

Auszug aus: Artur Rosenberg: Menschen auf der Straße. Juni-Juli
1940 in Frankreich. Wien: Wiener Verlag 1946. S. 267-273.

Die Angst, mit der die Menschen dieser Zone zu den Deutschen
aufblickten, war ihnen in die Züge geschnitten, doch nicht Angst
allein, häufig war auch achtungsvolle Scheu dabei.

Es mußte den Fremden zur Vorsicht mahnen und auf sich zu¬
rückweisen. Doch darüber hinaus gab es noch andere zwingende
Notwendigkeiten, die den Flüchtling von den Eingesessenen
fernhielten. Jede Haustür trug ein Verzeichnis mit Namen und
Alter der Insassen. Wer nicht darauf eingetragen war, durfte die
Schwelle nicht überschreiten. Wurde ein Fremder im Inneren
angetroffen, drohte den Hausbewohnern wie dem Besucher die
ganze Schwere des Kriegsgesetzes. Patrouillen wachten häufig über
die Einhaltung der Anordnung. — „Es kostet den Kopf“, sprach
es sich unter den Leuten herum. „Die Deutschen lassen mit sich
nicht spaßen“, nahmen sie es achselzuckend zur Kenntnis mit
einer Fügsamkeit, die jeden überraschen mußte, der dieses Volk
von früher kannte.

So war der Flüchtling geächtet und gezeichnet. Zur Ratlosigkeit
verurteilt, sollte er sich von den Einheimischen abheben, aus ihnen
hervortreten, sich selbst kennzeichnen und verraten.

Sehr rasch lehrte mich die harte Notwendigkeit zu unterscheiden,
wie nicht nur der Schritt und die übrigen Bewegungen, wie auch
die ganze Haltung und das Auge einen verschiedenen Ausdruck
annehmen, je nachdem man als Eingesessener etwa dem nahen
Acker zuschreitet oder auf einem Gang mit weitem Ziel ist. Ich
mühte mich um die besonderen, in sich begrenzten Gesten, die sich
gleichsam in der Enge des Raumes stoßen. Der gehetzte Flücht¬
ling, den alles zu Eile und schleunigem Davonstreben antrieb,
bedurfte eines reichlichen Mafes an Selbstbeherrschung, um die
ortsgebundene Gelassenheit und Gemächlichkeit zu schauspielern,
mit der er in der Menge geborgener Menschen aufgehen wollte.

Doch einmal schleuderte es mich völlig aus der Fassung, als an
Stelle der fremden deutschen Mundarten österreichische Laute
ans Ohr drangen. Durch Uniform und Drill der Wehrmacht
schlug es durch, die anderen vertrauten Bewegungen, alles das
Unnennbare und Unsagbare, das das Gefühl von Heimat zum
Schwingen bringt. Die Bitterkeit über das, was die Menschen der
Heimat an mir und den Meinen verbrochen hatten, war in diesem
Augenblick fort. Ich empfand diese Männer nicht als deutsche
Soldaten. Landsleute waren sie mir, unendlich nahe fühlte ich
mich ihnen. Heiß, fast unbezähmbar, quoll das Verlangen auf,
sie anzuhalten, ein paar Worte von ihnen mit auf den Weg zu
nehmen. Mein jähes Aufzucken hätte andere Soldaten stutzig
gemacht, sie indessen achteten nicht weiter darauf, weil sie waren,
wie sie eben sind.

Bei der Art, wie ich mir an Ort und Stelle mit allerlei Hantierung
zu schaffen machte, die Zeit vertrödelte, sobald Soldaten zugegen
waren, die ein Auge auf mich haben konnten, war es nur zu ver¬
ständlich, daß ich kaum die Hälfte des Weges hinter mir hatte,
als die Dunkelheit einbrach, mit der jedes Verlassen der Häuser
verboten war. Die Nacht verbrachte ich in einem verlassenen

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Holzverschlag. Da ich mich nicht in die Nähe der Bauern wagte,
mußte ich mich mit leerem Magen zur Ruhe hinstrecken.

Kälte, Hunger und vor allem die Sorgen ließen mich nicht
schlafen, das Bangen vor den nächsten Stunden mit der letzten,
aber gefährlichsten Wegspanne. Wird es gelingen? Tiefer als je
war in dieser Nacht die Hoffnung herabgeschmolzen. Als endlich
der heiß herbeigesehnte Tag aufdämmerte, erhob ich mich wie
zerbrochen aus meinem Blätterlager. Das Flämmchen des Lebens¬
mutes flackerte so blaß und so zittrig, daß es jeden Augenblick
zu verlöschen drohte.

Auf den Saumpfaden zwischen den Feldern war es schwierig,
die Richtung einzuhalten. Dort aber, wo ich die Straße nach
Paulmy nahe vermutete, drang ich seitwärts ins Knüppelholz ein.
Ich las Reisig auf, so viel, bis ein mächtiges Bündel beisammen
war, das lud ich auf die Schulter, damit der Kopf den Blicken
Vorbeikommender verborgen blieb.

Ich machte soeben eine Probe. „Halt!“ brüllte es deutsch irgend¬
wo im Wald. Zusammengeschreckt sah ich mich vergeblich nach
Menschen um, bis neu aufspringende Kommandorufe erkennen
ließen, daß, unsichtbar für mich, im Walde eine deutsche Ab¬
teilung auf Gefechtsübung lag. In weitem Bogen wich ich der
Gefahrenzone aus.

Das Astwerk wurde lichter. Von der Senke unten winkte das
weiße Band einer Straße, die das grüne Land teilte. Weithin keine
Seele. Eine Reichsstraße, zweifellos — aber bestimmt nicht die
gesuchte, sagte ich mir, sonst wäre sie ja von Wachposten gespickt.
Ich zog weiter auf der Höhe unter der Deckung der Bäume, bis
jenseits der Straße ein Bauernhof sichtbar wurde. Dort wollte
ich Rat einholen.

Fester schulterte ich meine Bürde, die einen so glaubwürdigen
Grund für mein Umherstreifen abgab.

Wo denn die Nationalstraße nach Paulmy führe, wendete ich
mich an den Bauern.

Die Nationalstraße nach Paulmy? — die hätte ich doch eben
überschritten.

„Dann...?“ Der Mund blieb weit offen.

„Ja“, antwortete er auf die unausgesprochene Frage. „Hier ist
schon das Freie Frankreich, da vorne am Straßengraben beginnt
es“, wies er mit dem Finger darauf. — Meine Lage hatte er schon
erfaßt, noch che ich den Mund aufgetan hatte.

Freudenrausch, Jubeldelirium, so ungefähr hatte ich mir diesen
Augenblick vorgestellt. —

Überraschung war er und Leere.

Doch alles stimmte, wie es in der Zeitung angekündigt gewe¬
sen. Wie war es nur möglich, daß diese Grenzstraße nicht stärker
bewacht wurde?

„Dreihundert Schritte weiter“, beriet mich der Bauer ungefragt,
„zweigt der Weg über Celle nach Petit Pressigny ab.“ Wenn der
Verkehr wieder hergestellt sei, wie es sich schon seit Tagen um¬
spricht, würde ich dort einen Stellwagen nach Chätillon finden.
Von Speise und Trank, die er mir teilnahmsvoll anbot, nahm ich
nur das Notwendigste. Zu schr drängte es mich weiterzukommen.
In einer Stunde wollte ich in Celle sein, mich satt essen und vor
allem ausruhen.