und „Leichenbergen“ berichteten. Und auch über den 17.10.
hinaus wurden über zehntausend Algerier noch tagelang in Pariser
Sportstadien gefangen gehalten und misshandelt — mit weiteren
Todesopfern.
Ist es angesichts all dessen nicht nachgerade ein Hohn, wenn
heutzutage pausenlos jene „westliche Wertegemeinschaft“ ge¬
predigt wird, die alle Unbill zu beseitigen angetreten sei? Dass
man nur die Europäische Union stärken müsse, um Frieden und
Eintracht zu garantieren? Und liegt es nicht auf der Hand, dass die
Beschwörung des Lernens aus den Verbrechen der Vergangenheit
durch unzählige Staatsmänner und -frauen scheinheilig bleibt,
solange diese sich ausschließlich auf den Nationalsozialismus
bezieht, während die Jahrzehnte danach tabuisiert und mit dem
Glorienschein des Wahren, Guten und Schönen umgeben werden?
Im geschilderten Falle selbst des Frankreichs der Resistance, noch
dazu mit der Delikatesse des bruchlosen Übergangs eines Teils des
Establishments von der Nazikollaboration zu Kolonialverbrechen
und Verbrechen gegen die Demokratie?
Kunsthändler des frühen 20. Jahrhunderts
Ende 1923 gründete Otto Nirenstein (Kallir-Nirenstein, Kallir)
in der Grünangergasse 1 in der Wiener Innenstadt die „Kunst¬
handlung Neue Galerie Ges.m.b.H.“, die wenige Monate später
mit einer Egon-Schiele-Gedächtnisausstellung eröffnet wurde.
1924 entstand im Rahmen der Kunsthandlung auch der „Verlag
der Johannes-Presse“, benannt nach dem neugeborenen Sohn
Otto und Fanny Nirensteins.
Nirenstein war zu dieser Zeit in der modernen Kunstszene be¬
reits etabliert. 1919 hatte er den Verlag Neuer Graphik gegründet
und Mappen mit Arbeiten von Künstlern wie Alfred Kubin und
Egon Schiele herausgegeben, auch war er Mitarbeiter der Gale¬
rie Würthle & Sohn gewesen. Von 1921 bis 1923 hatte er die
Kunstabteilung des Rikola Verlages in Wien geleitet und in dieser
Funktion Luxusausgaben mit Originalgraphik ediert. Im „Ver¬
lag der Johannes-Presse“ publizierte Nirenstein Originalgraphik
zeitgenössischer Künstler und bibliophile Ausgaben von Werken
bekannter Schriftsteller wie etwa Thomas Mann.
Von 1927 bis 1931 studierte Nirenstein parallel zu seiner Tätig¬
keit als Galerist Kunstgeschichte an der Universität Wien, 1931
wurde er zum Doktor der Philosophie promoviert. „Früh zeigte
er die Eigenschaften, die als Profil der Kunsthändler des frühen
20. Jahrhunderts beschrieben worden sind: bürgerliche Herkunft
und Bildungsstand, Neigung zu künstlerischer Betätigung, Au¬
todidaktik, Sammlertum. Außergewöhnlich war die Direktheit
seines Einstiegs in das Metier in jugendlichem Alter“, schreibt
Marie-Catherine Tessmar-Pfohl.” Zu den Charakteristika des
modernen Kunsthandels gehörten auch internationale Bezie¬
hungen und die Bindung von Künstlern durch Exklusivverträge
und Aufträge. Nirenstein konnte etwa Anton Faistauer oder Otto
Rudolf Schatz zumindest zeitweise vertraglich an sich binden,
und er pflegte geschäftliche Verbindungen besonders zum fran¬
zösischen und deutschen Kunsthandel. In seiner Neuen Galerie
präsentierte er erstmalig Richard Gerstl und zeigte Werke unter
anderem von Kokoschka, Kubin und Gustav Klimt sowie auch
von berühmten Künstlern aus dem Ausland wie Vincent van
Gogh, Edvard Munch oder Paul Signac. Mit dem Nachlass Peter
Altenbergs richtete Nirenstein in den Räumlichkeiten der Neuen
Galerie ein Altenberg-Zimmer ein. Die Katalogtexte verfassten
die renommiertesten österreichischen Kunsthistoriker dieser Zeit,
unter anderem Bruno Grimschitz, Hans Tietze, Alfred Stix und
Otto Benesch, die „die Interpretationshoheit im Zwischenkriegs¬
österreich innehatten“.? „Die Neue Galerie beteiligte sich am
kunsthistorischen Entwurf U
einer österreichischen Mo¬
derne. Auch ihre Ausstel¬
lungspolitik und die alles in
allem erfolgreich gesteuerte
Rezeption hatten teil an je¬
nem Österreichbild, das da¬
mals entworfen wurde und
für lange gültig blieb.““ ‘
Mitte der 1930er Jah- |
re nahm Otto Nirenstein |
zusätzlich den Namen
seines Urgroßvaters Kallir
an, nannte sich also fortan
Kallir-Nirenstein, im Exil
dann nur noch Kallir. Die
Stationen seiner Flucht
nach dem „Anschluss“ Ös¬
terreichs waren Luzern, Paris
und schließlich New York.
Dieser Artikel kann nicht
detaillierter auf die Bedeutung der Neuen Galerie in Wien einge¬
hen, hier sei auf die hervorragende, bislang leider unveröffentlichte
Diplomarbeit von Marie-Catherine Tessmar-Pfohl verwiesen.
Auch die Geschichte der von Kallir in New York gegründeten, bis
heute bestehenden Galerie St. Etienne steht nicht im Mittelpunkt
der Betrachtung. Kallirs 1954 in den USA geborene Enkelin,
Jane Kallir, die das Unternehmen bis heute leitet, hat sie in ihren
unter dem Titel „Saved from Europe“ publizierten Erinnerungen
nachgezeichnet.° Ebenso können die Umstände, unter denen die
Neue Galerie in Wien 1938 „arisiert“ worden ist, sowie Otto
Kallirs Rolle in der österreichischen Exilpolitik in den USA und
die damit verbundenen schwerwiegenden Auseinandersetzungen
hier nur gestreift werden. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt
auf der relativ kurzen, vergleichsweise schlecht dokumentierten
Zeit, die Kallir in Paris verbracht hat.°
... Zu retten, was zu retten war
Kallirs Neue Galerie in Wien wurde von seiner langjährigen Mit¬
arbeiterin Vita Maria Künstler pro forma „arisiert“. Es kann als
gesichert gelten, dass es sich bei dieser Geschäftsübernahme um
eine Scheinarisierung gehandelt hat - eine der wenigen derartigen