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von heute ... Elisabeth, ein Hitlermädchen, erlebt das Schicksal eines jungen Mädchens im heutigen Deutschland. Sie geht durch Hitlerjugend und Arbeitsdienst, macht Gasschutzübungen mit und streift durchs Gelände. Sie träumt vom blauen Waldsee und grünen Wiesen, aber der heroische Geist der neuen Ära will nur Geländeübungen und Nachtmärsche gelten lassen. Zwischen den Disteln dieser Zeit blüht dennoch Liebe, beglückend, verderbend. ... Maria Leitners Roman ist dichterische Gestaltung des Jugendschicksals unserer Tage.“!! Er ist jedoch weniger ein „Roman der deutschen Jugend“, wie es im Untertitel hieß, als vielmehr ein Buch über die Jugend im nationalsozialistischen Deutschland, als Anregung zum Nachdenken und widerständigen Handeln. Darauf zielte nicht nur Maria Leitner. Dafür arbeiteten die Schriftsteller und Künstler im antifaschistischen Exil in der sich allerdings als illusorisch erweisenden Hoffnung, durch ihre Werke am Sturz der HitlerRegierung und an einer baldigen Rückkehr nach Deutschland mitzuwirken. Infolge der immer weiter abnehmenden Möglichkeiten honorierter Veröffentlichungen war auch sie in große materielle Not geraten. Anna Seghers bat deshalb brieflich im August 1938, etwa zur gleichen Zeit wie Oskar Maria Graf in New York, die „American Guild for German Cultural Freedom“ um ein Arbeitsstipendium für die Kollegin; Maria Leitner sei „einer solchen Unterstützung bestimmt würdig, als begabte Schriftstellerin und als gute und tapfere Reporterin. Sie [lebe] in äußerst bedrängten Verhältnissen. Bei ihrer schlechten materiellen Lage und der Qualität ihrer Arbeiten wäre eine rasche Unterstützung sehr angebracht.“'” Und Oskar Maria Graf (1894 - 1967) schrieb über Maria Leitner am 9. August 1938 an Hubertus Prinz zu Löwenstein: Sie sei „eine sehr aktive antifaschistische Schriftstellerin, die nur wenige kennen ... eine der mutigsten und bescheidensten Frauen ... nicht nur eine gute Schriftstellerin, sondern «13 Wie sehr sie unter den schwierigen Bedingungen litt, ist ebenfalls dem Briefwechsel zwischen der Schriftstellerin und der „American Guild“ in New York City von 1938 bis 1941 zu entnehmen." In den vor allem an Hubertus Prinz zu Löwenstein gerichteten Briefen kann die von Krankheiten und zunehmender Armut gepeinigte Schriftstellerin u.a. am 4. Juli 1938 aus Paris trotzdem über ihre aktuellen literarischen Projekte berichten: „Ich habe einen Roman begonnen, der in Österreich-Ungarn, beziehungsweise in den Nachfolgestaaten der Vorkriegs-, der Kriegsund Nachkriegszeit spielt. Ich hatte meine Kindheit und frithe Jugend in diesen Ländern verbracht und möchte diese Erlebnisse, die Menschen, denen ich auf meinem Lebensweg begegnete, gestalten.“ Am 8. März 1939 ergänzt sie: „An dem Roman habe ich auch große Fortschritte gemacht. Ich baue ihn vollkommen um. Er soll viel konzentrierter, dramatischer werden. Dadurch entfällt allerdings mein Plan, Teile daraus in Zeitschriften unterzubringen. Aber ich glaube, dass die neue Form viel besser und künstlerischer sein wird ...“ Das von Maria Leitner erwähnte Manuskript blieb leider bisher unauffindbar. Im gleichen Brief erwähnt sie außerdem „Vorarbeiten für Aufsätze, die für amerikanische Blätter bestimmt sind“ und kann von einer insgesamt erfolgreichen Arbeit der letzten Wochen berichten: „Eine Novelle hat das Wort angenommen, einen längeren Aufsatz eine holländische und gleichzeitig auch eine Schweizer Zeitschrift. Kleinere Artikel bringt die Weltbühne. Die Hauptsache wäre, dass ich einige Monate lang stetig arbeiten könnte; ich glaube, dass ich mir dann eine Lebensmöglichkeit 66 _ZWISCHENWELT schaffen würde...“ Am 30. März 1939 übersandte Maria Leitner an Prinz zu Löwenstein zudem ein „eben beendetes Filmmanuskript, ‚Krieg dem Krieg. Der Lebensroman Bertha von Suttners““, mit der großen Hoffnung, „dass diese Arbeit in Amerika Interesse finden würde“.' Wenig später traf Erich Weinert auf der Durchreise aus Spanien nach Moskau in Paris zufällig Maria Leitner. Über diese Begegnung bemerkt er im Brief vom 18. April 1939 an seine Frau: „Maria Leitner arbeitet als Gelegenheitsdienstmädchen und hungert sich erbarmungswürdig durch.“'° Aber auch er konnte ihr als mittelloser Emigrant nicht helfen. Verzweifelte Versuche zu entrinnen Anfang 1940 musste Maria Leitner vermutlich aus finanziellen Gründen aus der Pension in 4, rue Saint-Sulpice in eine noch einfachere Unterkunft in 75, rue de Seine wechseln. Von dort schrieb sieam 16. April 1940 nach New York: „Ich bin seit einem halben Jahr fast ständig krank. Es begann mit einer schweren Grippe, und in einer ungeheizten Dachkammer, hungernd, ist es schwer, gesund zu werden, besonders wenn sich obendrein die Weltgeschichte auch in unserem so bescheidenen Privatleben bemerkbar macht. Aber trotz allem, oder vielleicht auch deshalb, habe ich sehr viel gearbeitet.“ Sie kann berichten, dass der österreichische Roman fast fertig sei. Sie plane nun in einem Buch, welches sie englisch zu schreiben versuche, von ihren Amerikaerlebnissen zu erzählen. Zudem habe sie ein Theaterstück über das Leben der Flüchtlinge sowie verschiedene Short stories auf Englisch verfasst und fragt nach der Möglichkeit, „einige dieser Arbeiten in amerikanischen Magazinen unterzubringen“. Auch diese Texte sind noch immer verschollen. Im Mai 1940 begann dann der militärische Angriff NaziDeutschlands auf Frankreich. Die französische Regierung hatte bereits nach Kriegsausbruch im September 1939 mit der Internierung der deutschen EmigrantInnen begonnen. Auch Maria Leitner wurde nun im Mai/Juni mit Hunderten Leidensgenossinnen in das Camp de Gurs am Nordrand der Pyrenäen verbracht. Ihr gelang jedoch mit anderen Frauen die Flucht. Elisabeth Weichmann und Lisa Fittko berichteten später über die katastrophalen Lebensumstände der Internierten.'” Dabei lassen die Schilderungen der Situationen im Lager und während der Flucht persönliche Begegnungen mit Maria Leitner in jenen Wochen vermuten. Maria Leitner erzählte auch Anna Seghers bei einem zufälligen Zusammentreffen in Marseille im Frühjahr 1941, dass „sie eine Gelegenheit nutzte, um in einem unbewachten Moment mit anderen Personen aus dem Lager zu entkommen und sich bis nach Toulouse durchzuschlagen“'*, wo sie nochmals von Luise Kraushaar, einer ehemaligen Mitarbeiterin im Verlag der Jugendinternationale um 1920/22 in Berlin, geschen wurde: „Eines Tages ging ich in eines der zahlreichen Cafes von Toulouse. Da sah ich Maria Leitner allein und wie verloren an einem Tischchen sitzen. Mir war, als hätte sie sich in den 18 oder 19 Jahren überhaupt nicht verändert. Das gleiche zierliche Figürchen, die gleiche Haartracht, der gleiche — etwas melancholische - verlorene Gesichtsausdruck. Mein erster Impuls war, auf sie zuzugehen. Dann unterließ ich es. Sie hätte sich — so dachte ich - sicherlich nicht mehr an das junges Mädchen von damals erinnert. Ich wollte mich nicht aufdrängen. Heute bereue ich sehr, dass ich sie nicht angesprochen habe.“'? Aber damals waren wohl aktuelle Restriktionen zwischen den Parteien