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Tanja Dückers Rassismus in den USA Ein unbewaffneter Schwarzer flüchtet in North Charleston nach einer Verkehrskontrolle vor einem weißen Polizisten und wird von ihm durch Schüsse in den Rücken getötet. Ein zwölfjähriger schwarzer Junge wird in Cleveland von einem Beamten erschossen, weil dieser dessen Spielzeugpistole für echt hielt. In Tulsa tötet ein 72-jähriger Hilfssheriffeinen Schwarzen beider Verhaftung, weiler versehentlich anstelle des Teasers seine Pistole benutzte. Ein Fehler, dereinemausgebildeten Polizisten nicht hätte passieren dürfen. Die Liste ließe sich lange fortführen. Fast taglich endet ein Polizeieinsatz in den USA tödlich. Und auch in Europa machten die Aufstände in Ferguson (Missouri) Schlagzeilen, nachdem dort vor anderthalb Jahren der schwarze Teenager Michael Brown erschossen wurde und eine Grand Jury entschieden hatte, kein Verfahren gegen den verantwortlichen Polizisten zu eröffnen. Auffallend ist, dass die tödlichen Einsätze oft in Gegenden mit vielen sozialen Problemen stattfinden. Während dort zumeist überdurchschnittlich viele Schwarze wohnen, ist die Polizei überwiegend weiß. Die Mischung entwickelt oft eine fatale Dynamik. Da in von Schwarzen dominierten Stadtteilen aufgrund sozialer Missstände und Armut tatsächlich oft höhere Kriminalitätsraten zu verzeichnen sind, neigen viele weiße Polizisten dazu, sozusagen aus ihrer empirischen Erfahrung, Menschen in diesem Umfeld sozusagen generell zu verdächtigen und vorurteilsbeladen zu agieren. Infolgedessen werden die Bewohner schwarzer Stadtteile viel öfter kontrolliert als Weiße in wohlhabenden Suburbs. So verstärken sich rassistische Stereotypen, obwohl das Kriminalitätsgefälleeigentlich auf ökonomische und soziale Unterschiede zurückzuführen ist. Wie viele Menschen bislang durch Polizeieinsätze getötet wurden, weiß niemand genau. Das scheint, bis vor Ferguson zumindest, niemanden interessiert zu haben. In den USA gibt es kein zentrales Register über die Anzahl von Todesfallen durch Polizeieinsatze. Die Bundesstaaten führen jeweils ihre eigene Statistik, manche aber auch gar keine. Wenn man jedoch, wie jetzt geschehen, die Zahlen addiert, kommt man auf erschreckende Ergebnisse: Seit dem 11. September 2001 gab es rund 5.000 Tote durch Polizeieinsätze, wie die Initiative killedbypolice feststellte. Dem gegenüber stehen 54 Anklagen und gerade mal elf Verurteilungen. Der Anteil der getöteten Schwarzen durch Polizeieinsätze ist dreimal so hoch wie der Anteil in der Bevölkerung (13 Prozent). Und Schwarze machen, laut Huffington Post, 44 Prozent der Gefängnisinsassen aus. Deramerikanische Journalistund Buchautor Ta-Nehisi Coates hat nun ein Buch iiber Rassismus in den USA geschrieben — in Form eines Briefs an seinen 15-jährigen Sohn, in dem er die persönliche Geschichte der Coates mit der kollektiven Geschichte schwarzer Amerikaner verzahnt. Der Ton, die Dringlichkeit von „Between the world and me“ (auf Deutsch: „Zwischen mir und der Welt“), aber auch seine Analyse der strukturellen Gewalt gegen Schwarze in den Vereinigten Staaten sind bestechend. „Pflichtlektüre!“, sagte die Schriftstellerin und Nobelpreistragerin von 1993 Toni Morrison über „Between the World and me“ und verglich Ta-Nehisi Coates mit James Baldwin. Auf der Bestsellerliste der New York Times erreichte Coates Kampfschrift den ersten Platz. Ta-Nehisi Coates, Jahrgang 1975, ist einer der derzeit interessantesten amerikanischen Intellektuellen. Mit seinem vor anderthalb Jahren erschienenen Essay „Plädoyer für Reparationen“ trat er für eine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitungder Sklavereiinden USA ein. Seine Forderung nach Entschädigungszahlungen an schwarze US-Bürger polarisierte die öffentliche Meinung. Unbestritten ist jedoch, dass die Folgen der Sklavereinoch heute ökonomisch nachweisbarsind. So konstatiert Coates in „Zwischen mirund der Welt“: „(...) der Vermögenswert weißer Haushalte ist etwa zwanzigmal so hoch wie der schwarzer Haushalte (...) Die Einkommenslücke, die zwischen schwarzen und weißen Haushalten klafft, ist heute noch genauso groß wie 1970. An diesen Zahlen ändert auch nicht, dass es jetzt keine erniedrigenden ‚Nur für Weiße‘-Schilder mehr gibt.“ Politisches Engagement hat in Coates’ Familie Tradition: Sein Vater gehörte der Black Panther Party an und gründete die Black Classic Press. Nun ist Ta-Nehisi Coates selbst Vater. Ausgangspunkt für „Zwischen mir und der Welt“ war für Coates die anhaltende Gewalt, die von weißen Polizisten an Schwarzen verübt wird. Der Leser merkt schnell: Coates hat schlicht Angst um seinen Sohn im Teenager-Alter. Sein Brief in Buchform ist ein Stück mentalitätsgeschichtliche Aufklärungsarbeit der besonderen Art. Dabei rückt Coates den für Jugendliche so wichtig werdenden eigenen Körper ins Zentrum seiner Betrachtungen, allerdings nicht unter erotischer Prämisse, sondern unter dem Aspekt der Gefahr für Leib und Leben: „Ich schreibe dir jetzt in deinem fünfzehnten Lebensjahr. Ich schreibe dir jetzt, denn dies ist das Jahr, in dem du geschen hast, wie Eric Garner erwürgt wurde, weil er Zigaretten verkaufte, im dem du erlebt hast, dass Renisha McBride erschossen wurde, weil sie Hilfe holen wollte, und dass John Crawford erschossen wurde, weil er durch ein Kaufhaus schlenderte. Du hast geschen, wie Männer in Uniform im Vorbeifahren Tamir Rice ermordeten, den zwölfjährigen Jungen, den sie ihrem Eid gemäß hätten beschützen sollen (...)“ Und Coates resümiert: „Und spätestens jetzt weißt du, dass die Polizeireviere deines Landes mit der Befugnis ausgestattet sind, deinen Körper zu zerstören (...) Wenn duohne Genehmigung Zigaretten verkaufst, kann dein Körper zerstört werden. Wenn du dich gegen Menschen auflehnst, die deinen Körper einfangen wollen, kann er zerstört werden (...) Die Zerstörer werden selten zur Rechenschaft gezogen.“ Movens für Coates Brief an seinen Sohn waren auch eigene Angsterfahrungen mit der Polizei. So rekapituliert er, wie er von der Polizei in Prince George’s County (Maryland) in seinem Wagen angehalten wurde. In diesem Moment hatte er große Angst, denn „ich wusste, dass die Polizei von PG County Elmer Clay Newman getötet und anschließend behauptet hatte, er habe seinen Kopf gegen die Wand einer Gefängniszelle gerammt. Und ich wusste, dass sie Gary Hopkins erschossen und dann behauptet hatten, er habe nach der Waffe eines Polizisten gegriffen (...) In Berichten hatte ich gelesen, wie diese Polizisten Mechaniker gewiirgt, Bauarbeiter angeschossen, Verdächtige durch die Glastür von Shopping-Malls geschleudert hatten. Und ich wusste, dass sie dies regelmäßigtaten, wie angetrieben von einer unsichtbaren kosmischen Uhr. Ich wusste, dass sie auf fahrende Autos schossen, auf Unbewaffnete schossen, Männern in den Rücken schossen und anschließend behaupteten, sie selbst hätten unter Beschuss gestanden. Die Fälle wurden untersucht, die Schützen wurden entlastet und kehrten umgehend auf die Straße zurück, wo sie, entsprechend bestärkt, weiterschossen.“ Doch Ta-Nehisi Coates hatte Glück. Sein Führerschein wurde überprüftund ihm wortlos wiedergegeben. Aber er, derangeschene New Yorker Intellektuelle, hatte die Erfahrungabsoluter Ohnmacht gegenüber der Polizei gemacht. „Diese Polizisten hatten meinen Körper, sie konnten damit machen, was sie wollten“, erinnert er Mai 2016 81