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Der Wallfahrtsort Maria Blut liegt irgendwo
im Oberösterreichischen. Die Suche auf einer
Landkarte oder in einem Ortsverzeichnis des
Bundeslandes verläuft indes erfolglos. Maria
Blut ist eine dezidiert literarische Ortschaft
und der Schauplatz von Geschehnissen und
Unterhaltungen, die in Maria Lazars Roman
Die Eingeborenen von Maria Blut geschildert
werden. Es ist allerdings auch kein rein fiktiver
Ort literarischer Imagination ohne Bezug zur
Welt außerhalb des Romans. Im Gegenteil:
Maria Blut kann im Jahr der Romanerzählung
(1933) jede österreichische Provinzstadt sein.
Lazar entwirft einen Ort, an dem die Kämpfe
und Auseinandersetzungen, die Redeweisen und
Ideologien der Zeit mit Mitteln der Literatur
analysiert und exemplarisch vorgeführt werden.

Der Zeitraum, der im Roman verhandelt wird,
umfasst jene Monate des Jahres 1933, in denen
die 1895 in Wien geborene Schriftstellerin und
Publizistin Maria Lazar sich entschied, ins Exil
nach Dänemark zu gehen, wo sie bis zu ihrer
späteren Flucht nach Schweden blieb. Bereits
1935 stellte Lazar das Manuskript von Die Ein¬
geborenen von Maria Blut fertig. Ein Kapitel
daraus erschien 1937 in der Moskauer Exil¬
zeitschrift Das Wort, der gesamte Text allerdings
erst postum 1958 unter dem Pseudonym Esther
Grenen in der DDR.

Der Roman stellt die historische Situation im
begrenzten Rahmen eines Wallfahrtsortes vor.
Die schon im Titel angekündigten „Eingebore¬
nen“ sind darin als individuell wiedererkennbare
Figuren gezeichnet. Von der fanatisch-frommen
Tochter des verarmten Schankwirts über den
betulich-reaktionären Bürgermeister bis hin
zum abgebrannten Altadeligen repräsentieren
sie unterschiedliche Gesellschaftsschichten und
Milieus. Dialogpassagen kombiniert die Autorin
mit der Montage von Stimmen ohne bekannte

Sprechinstanz zu einem Textgeflecht, in dem
Gerüchte gestreut werden, die öffentliche Mei¬
nung weitergetragen wird und Wertmaßstäbe
für schnelle Urteilssprüche stets zur Hand sind.
Dementsprechend ergeht es Figuren, die nicht
zu diesen Eingeborenen zählen, wie dem sozi¬
aldemokratischen Arzt Gustav Lohmann: „Die
Eingeborenen sehen ihm nach. Er spürt es durch
das dünne Hemd, er würde es spüren, auch
wenn er seine Lederjacke trüge. Sie werfen sich
Worte zu, nur ein paar, sie verstehen einander.“
Dieses immer schon hergestellte Einverständnis
der Dorfgemeinschaft tut etwa terroristische An¬
schläge von Nazis unter der Führung des örtli¬
chen Oberlehrers als Streiche dummer Kinder ab
und setzt seine Hoffnungen auf Unternehmer,
die den Ort aus der finanziellen Misere führen
sollen, sich aber als korrupte Geschäftemacher
entpuppen. Bestimmte Figuren stehen außer¬
halb dieses Einverständnisses. Neben Lohmann
und mehreren positiv gezeichneten Frauenfi¬
guren aus dem Dienstpersonal der besserge¬
stellten Häuser etwa der jüdische Rechtsanwalt
Meyer-Löw, der eine zukünftige Katastrophe
voraussieht: „Aber es wird einer kommen, der
wird zu was führen. Die Eingeborenen wollen
ihren Messias haben.“

Lohmann flüchtet sich vor der drückenden
Atmosphäre des Provinzorts und der üblen
Nachrede der Eingeborenen wiederholt nach
Wien zu seiner Geliebten Alice. Doch auch sie
weiß ihm nicht zu helfen und sieht den Kampf
um die Stadt kommen: „Du wirst noch an
mich denken, Gust. Die Eingeborenen erobern
Wien.“ Die Spannung zwischen der Haupt¬
stadt und Maria Blut durchzieht den gesamten
Roman. Für die Eingeborenen ist Wien — ent¬
sprechend den Stereotypen der Zeit — „einem
ungeheuren Wasserschädel gleich“ und steht für
zwei zentrale Feindbilder: „die Herren Sozi im

Die Lusitanistin und freie Journalistin Uli
Jürgens hat sich unter anderem für eine Öl¬
Rundfunksendung und eine auf ORF 3 ausge¬
strahlte Fernsehdokumentation eingehend mit
dem Exilland Portugal befasst und auch das hier
rezensierte Buch geschrieben. Sowohl die Radio¬
als auch die Fernsehsendung waren kompetent
gestaltet und hörens- beziehungsweise sehens¬
wert. Für das Fernsehen hat Jürgens die Wiener
Exilforscherin Gabriele Anderl interviewt.

Viele Autoren, die Lesern im Umkreis der
Theodor Kramer Gesellschaft bekannt sind,
fliichteten iiber Portugal in die Freiheit und
sind im Buch erwähnt oder zitiert.

Das zentrale Kapitel „Der ungehorsame
Konsul“ über Aristides de Sousa Mendes

(1885 — 1954) beschreibt die Motivation, Fa¬
miliengeschichte und das Nachkriegsschicksal
dieses so tapferen und menschlichen Konsuls.
Wie viele Menschen er rettete, ist eine offene
Forschungsfrage. Jürgens schreibt auf S. 211:
„... Historiker sprechen von 10.000 bis zu
30.000“.

Mit Hilfe von Aristides de Sousa Mendes
gelang auch Otto von Habsburg mit seiner
Familie die Flucht über Spanien und Portu¬
gal in die USA. Noch kaum erforscht jedoch
sind die konkreten Hilfsleistungen Otto von
Habsburgs in Lissabon. Jürgens schreibt dazu
nur: „Otto von Habsburg versucht auch von
Portugal aus, österreichischen Flüchtlingen zu

helfen“ (S. 176).

Parlament“ und die „die jüdischen Zeitungen“.
Der alte Meyer-Löw kennt die Ausweglosigkeit
der Lage und setzt Lohmann auseinander, dass
die Maria Bluter Zustände und Geschehnisse
eine Bedeutung haben, die über Österreich hi¬
nausreicht. Man möchte hinzufügen: Die über
den Romantext hinaus Gültigkeit hat und die
Signatur des Exils trägt: „Lohmann, in jedem
Land gibt es Eingeborene, nicht nur hier in dem
kleinen Österreich, zu dem wir beide nun einmal
gehören. Bilden Sie sich ja nicht ein, daß die
Eingeborenen nur hier zuhause sind. Die gibt
es überall. Aber es sicht so aus, als käme jetzt bei
uns das Zeitalter der Eingeborenen.“

Mit der Neuausgabe des Romans trägt der
Wiener Verlag Das vergessene Buch mit einer wei¬
teren Buchveröffentlichung zur Wiederentde¬
ckung Maria Lazars bei. Bereits die Herausgabe
ihres expressionistischen Romandebüts Die Ver¬
giftung im vergangenen Jahr war der Ausgangs¬
punkt für eine verstärkte Beschäftigung mit dem
literarischen Schaffen der Autorin. Den Presse¬
stimmen war durchweg große Überraschung
angesichts der literarischen Qualität des Romans
zu entnehmen. Mehrfach wurden die überkom¬
menen und unreflektierten Auswahlkriterien
literaturgeschichtlicher Kanonisierung kritisch
thematisiert, die zum Vergessen gerade der Li¬
teratur von Autorinnen der Zwischenkriegszeit
und des Exils führen. Wer Maria Lazars Romane
liest, kann herausfinden, wie die Überraschung
und der Antrieb zur Kritik entstehen.

Thomas Assinger

Maria Lazar: Die Eingeborenen von Maria Blut.
Roman. Hg. und mit einem Nachwort von Jo¬
hann Sonnleitner. Wien: DVB-Verlag 2015. 269
5. € 17,90

Arnold Wiznitzer und seine Frau Debra waren
ein Ehepaar, das von Aristides de Sousa Men¬
des gerettet wurde. Leider fehlen Debra und
der auch namentlich genannte Sohn Leonard
des Paares im Personenindex genauso wie der
Chefkurator des Wiener Jüdischen Museums
Werner Hanak, der mehrfach im Fließtext des
Buches vorkommt.

Jüdische Geschichte ist leider nicht die Stärke
von Uli Jürgens.

Arnold Wiznitzer, laut der Autorin 1896 ge¬
boren, nur als österreichisch-jüdischen Univer¬
sitätsprofessor einzuführen ($.87), istschr wenig
für interessierte Leser. Im dreibändigen „Hand¬
buch österreichischer Autorinnen und Autoren
jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert“

Mai 2016 93