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Martin Krist

Auf der Rückfahrt aus dem Süden machen viele Urlaubsreisen¬
de Station in der „Landzeit“-Autobahnraststätte Loipersdorf im
Bezirk Oberwart. Am Weg zum WC der Raststätte befindet sich
an den Wänden eine Reihe von alten historisch-romantischen,
ländlichen Aufnahmen aus Loipersdorf. Da kann man den ungari¬
schen Namen des Dorfes — Lipötfalva- erfahren. Das Burgenland
gehörte ja zur ungarischen Reichshälfte der k.u.k. Monarchie. Die
Urlauber sehen die Kinder der acht Volksschulklassen aus dem
Jahr 1910, alte Grußpostkarten mit Ortsansichten oder Getrei¬
demandeln aus den 1950er Jahren. Und mitten darunter finden
sie zwei Bilder mit sehr vielen Menschen, eines händisch datiert
mit „August 1938“. Schr viele Kinder - alle ohne Schuhe - sind
daraufzu schen. Die Menschen sind ärmlich gekleidet und stehen
dicht gedrängt vor niedrigen, lehmgeputzten Holzhütten. Viele
haben dunklen Teint, aber bei weitem nicht alle. Es sind Roma
vor ihrer Siedlung. Dies geht aus der Bildunterschrift des zweiten
Fotos hervor. Sonst erfährt man nichts. Im Dunkeln bleibt, wa¬
rum und zu welchem Zweck diese Fotos gemacht wurden. Und
man erfährt nichts darüber, dass in den 1930er Jahren über zehn

Karl Pfeifer

71 Jahre sind vergangen seit der Befreiung Frankreichs und die Frage
der französischen Verantwortung für die Deportation von 80.000
ausländischen und französischen Juden in die Vernichtungslager wird
noch immer diskutiert.

Nach der militärischen Niederlage im Juni 1940 hatte die Kolla¬
borationsregierung unter Marschall Philippe Pétain die antisemi¬
tische Tradition Frankreichs, die auf katholischen, sozialistischen,
rassistischen und nationalistischen Wurzeln beruhte, weitergeführt.
Die von P£tain initiierte Nationale Revolution schaffte das Emanzi¬
pationsdekret der französischen Revolution von 1791 ab und schuf
auf französischem Boden Konzentrationslager, in denen tausende
Juden gefangen gehalten wurden. Viele starben an Krankheiten
oder verhungerten, bevor sie noch deportiert werden konnten.
Vichy erließ bereits im Oktober 1940 das Juden diskriminierende
„Statut des Juifs“. Dieses beispiellose Verbrechen hätte ohne die
volle Kooperation der französischen Polizeiund Gendarmerie nicht
vollbracht werden können, 90 Prozent der deportierten Juden wur¬
den von ihnen festgenommen. Nirgendwo in Westeuropa gab es
eine solche Mitarbeit der lokalen Administration wie in Frankreich.
Vichy ergriffdrakonische Maßnahmen, um das jüdische Eigentum
zu „arisieren“. Es handelte sich um eine Vermögensübertragung
großen Ausmaßes, die rund 42.000 jüdische Geschäfte, Häuser
und anderen Besitz betraf. Die französische Bürokratie führte
detaillierte Judenzählungen durch, stempelte in Personalausweise
„Juif“ und in den Medien kam es zu einer schrecklichen, hysteri¬
schen Verleumdungs- und Stigmatisierungskampagne gegen Juden.

Dies war bis Anfang der siebziger Jahre ein Tabu, ein schmerz¬
liches Thema, das die offizielle Geschichtsschilderung, die nur
die Resistance hervorhob, als Geschichtsklitterung bloßgestellt
hätte. Viele Franzosen versuchten die „vier düsteren Jahre“ aus

Prozent der Dorfbewohner Roma waren. Laut einer Erhebung der
Gendarmerie für die berüchtigte „Zigeunerkartei“ lebten 1933 in
Loipersdorf 117 Roma. Später „nutzten“ die NS-Behörden diese
Kartei. Und man erfährt auch nichts darüber, dass im August
1938 ihre Zahl weiter anstieg. Dies geschah aufgrund einer Ver¬
ordnung der neuen NS-Machthaber. Arbeitsfähige Roma wurden
in größeren Siedlungen zusammengefasst und zur Zwangsarbeit
in Steinbrüchen, beim Straßenbau oder in der Landwirtschaft
eingesetzt. Deshalb kam es zur Zwangsumsiedlung der Roma
aus den Nachbardörfern Kitzladen und Neustift nach Loipers¬
dorf. 1939 hatte das Dorf dadurch 1.247 Bewohner, 1951 waren
es nur mehr 1.001. Und natürlich erfährt man nichts über das
Schicksal dieser Menschen, die fast alle dem Rassenwahn der
Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Von den 3.000 Roma, die
1938 im Bezirk Oberwart lebten, kehrten nach dem Ende des
Krieges nur 200 in ihre Dörfer zurück.

Doch diese Informationen wären - fast ist man geneigt zu sagen:
verständlicherweise — für die Intention der Raststättenbetreiber
wohl störend.

der Erinnerung zu tilgen. Marcel Ophüls’ Film Ze Chagrin et
la Pitie, diese wegweisende Chronik einer französischen Stadt
unter deutscher Besetzung, versetzte Anfang der 1970er Jahre
die politische Klasse Frankreichs in helle Aufregung und führte
zu einem zehn Jahre dauernden Ausstrahlungsboykott im Fern¬
sehen. 1971 zeigte lediglich ein Kino in Paris diesen Film, womit
Ophüls ungewollteinen Generalangriffaufdie damalige politische
Lebenslüge Frankreichs startete, den Mythos des im Widerstand
vereinten französischen Volkes. Ophüls verband die Tugenden des
investigativen Journalismus mit der Kunst des großen Kinos. Seit
dieser Zeit kamen viele historische Werke über das Vichy-Regime
und dessen rechtsextremistische Parteien sowie über die Rolle des
französischen Staates während des Holocausts heraus.

Die Pariser Ausstellung über die Kollaboration, 2014/15 im Pariser
Nationalarchiv, die auch vom Verteidigungsministerium unter¬
stützt wurde, machte aufmerksam auf viele bis jetzt unbekannte
Dokumente, die aus französischen und ausländischen Archiven
sowie aus privaten Sammlungen stammen. Zum Beispiel ein Bild,
das Staatspräsident Philippe P&tain, Ministerpräsident Pierre Laval
und den Generalinspekteur der Polizei René Bousquet zeigt, wie sie
gerade aus dem Hotel De Sévigné in Vichy schreiten. Am Riicken
des Bildes sieht man den Stempel der deutschen und französischen
Zensur mit dem Datum 3. Juli 1942. Die drei Personen kamen
gerade aus der Sitzung des Ministerrates, der nach einem Bericht
von Laval beschlossen hatte, dass der französische Staat die Vel
d’Hiv-Razzia durchführen wird, die dann am 16. und 17. Juli
ausschließlich von der französischen Polizei vorgenommen wurde.
12.884 ausländische Juden, darunter 4.000 Kinder, wurden mit
städtischen Autobussen in die Arena des Velodrome d’Hiver gebracht
und tagelang ohne Nahrung, Wasser und sanitäre Einrichtungen

Oktober 2016 5