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des zweiten Besuchs in der Rumpelkammer und die vorgebliche Lösung des ganzen Problems, die K. durch eine Anweisung an die Diener der Bank so einfach herbeiführen kann. Es gehört nun zu Goldschmidts Lektüre, dass sie solche Momente eher in den Hintergrund treten lässt, obwohl dem Autor natürlich im Allgemeinen nicht entgeht, dass es bei Kafka dieses Burleske gibt. Die Komik bleibt ihm aber dort verborgen, wo es um unmittelbare körperliche Gewalt geht. Die Einfühlung in die Rolle der geprügelten Wächter, die Kafka gerade durch die komischen Momente konterkariert, wird in der Deutung Goldschmidts so übermächtig wie der sexuelle Charakter der Bestrafung betont wird. Und doch weiß Goldschmidt sehr genau den Ursprung dieser Komik im Masochismus anzugeben: „Wenn ich meine Knechtschaft hervorhebe und mich erniedrige, reduziere ich den, dem ich diene, und mache ihn durch meine übertriebene Unterwerfung lächerlich. “”' Während bei Kafka die Scham als Begleiterscheinung der Strafe präsent ist, findet sie sich in Goldschmidts eigenen Erzählungen offen sexuell konnotiert, ob er nun von der Lust des Kindes spricht, das sich, obwohl es nichts getan hat, aus Trotz einer Tat bezichtigt, oder vom Erzieher, der mit größter Wollust seinen Zögling mit der Rute züchtigt.”” In seiner Kafka-Interpretation holt Goldschmidt gerade zusammen mit der Betonung des sexuellen Moments all dessen, was geschieht, immer wieder auch die Innenwelt herein, die in Kafkas hermetischer Prosa, deren Helden angewiesen werden „ihre Seelen in der Garderobe zurückzulassen“, verdeckt ist. Über die Erzählung In der Strafkolonie heißt es in seinem Kafka-Buch: „Es ist, als öffnete die Einschreibung des Befehls in den Körper den Blick auf das ‚Empfinden‘ dieses Körpers, als wäre das sadistische Vorgehen eine Art vergeblicher Versuch, die Seiten zu wechseln und zu fühlen, was der Leidende fühlt.“ Genau diesen Blick verweigert Kafka, und doch ist er das Ihema seiner Erzählung. V Auffällig ist, dass bei Goldschmidt die Figur des Vaters und die Familie, die doch in Kafkas Texten von so zentraler Bedeutung sind, einen blinden Fleck bilden, ja dass sie selbst dort, wo er über die Verwandlung, den Prozess oder In der Strafkolonie schreibt, einfach der Verdrängung anheimfallen. Dies rührt vielleicht nicht nur aus der Erfahrung des Waisendaseins, zu dem ihn die Nationalsozialisten verurteilt hatten. Goldschmidts Vater war, so geben seine biographischen Berichte zu erkennen, offenkundig weit weniger dominant als der Kafkas, während ihn mit der liebevollen, nervenkranken Mutter eine viel stärkere und kompliziertere Beziehung verband. Und selbst wenn es nicht so einfach nachzuvollziehen ist, in einer bestimmten Weise dürfte es ihm geglückt sein, sich von Schuldgefühlen paradoxerweise durch die sexuellen Obsessionen im Internat mehr als andere zu befreien, er spricht im Zusammenhang mit den jugendlichen Zöglingen von der „Bekanntschaft mit der brennenden, schamvollen Lust an der Nacktheit im Schmerz und der ‚Sammlung‘ ihres Selbst in der hinreißenden Gewißheit des Seins“.°° Zugleich war das Eintreten solcher Gewissheit aber auch der Augenblick, sich gerade von all jenen gleichsam abzustoßen, die ihn im Internat jahrelang gezüchtigt und gedemütigt hatten. An dieser Stelle spricht Goldschmidt auch davon, dass die Jesuiten „mit ihrem klug gemäßigten und rege praktizierten Gebrauch der Rute in den Kollegien“ sich bestens auf eine Art „Mittelweg des Wissens durch die Vertrautheit mit dem Körper“ verstanden. Mitunter entsteht hier die Gefahr, die körperliche Züchtigung in den entsprechenden Internaten zu verharmlosen, wenngleich solche Sätze aber auch nötig sind, um den Unterschied zu einer auf Vernichtung ausgerichteten Folter, wie sie etwa Jean Amery beschrieben hat, deutlich zu machen. Der Raum, in dem Goldschmidt körperliche Züchtigung und Marter erlebte, war zugleich der Raum, in dem er als jüdisches Kind vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten bewahrt war. Diese Konstellation ist es, die er als Schriftsteller in allem, worüber er schreibt, zum Ausdruck zu bringen vermag. Mit ihr geht es nicht nur um die biographische Wahrheit, sondern um die grundlegende Aporie der postnazistischen Welt. Dass das Judentum Kafkas Leben „zutiefst geprägt“ hat, dessen ist sich Goldschmidt aus eigener Erfahrung gewiss: „Jeder Jude — auch Kafka — weiß körperlich, von Geburt und instinktiv, daß er wie der Jäger Gracchus über dem Tode wandelt, nicht dem natürlichen Tod, sondern dem Todesurteil, wie Josef K. ... Anscheinend ist das Leben keine Selbstverständlichkeit für Kafka; aufgrund seiner Herkunft weiß er, daß er nur Aufschub hat, jedem ausgeliefert, der über ihn verfügt oder ihn haben möchte, allen Gefahren ausgesetzt und 'vogelfrei’ ... das heißt außerhalb des Gesetzes und leicht abzuschießen. Qua Geburt gehört Kafka zu den “Tötbaren‘, sein Leben ist jederzeit widerruflich. Von da an ist das Leben eine Art Herausforderung. “”° Weil der Jude sich seit jeher in der Gnadenfrist weiß, ist die Gnadenfrist „der eigentliche Stoff von Kafkas Erzählungen“. Diese Gnadenfrist hat Kafka auf einzigartige Weise zu nutzen gewusst. „Doch Kafka ist auch Hartnäckigkeit, Beharren im Sein, ein schr jüdischer Starrsinn übrigens: weiterleben zu wollen um jeden Preis, allen Erscheinungen der Menschenjagd zum Trotz.“ **® Auf ganz andere Weise und doch auch im Sinn von Kafkas Hartnäckigkeit revoltiert Goldschmidt. Seine Demütigungen verwandeln sich in Zorn: „So schnell werdet ihr nicht fertig mit mir.“” Und er zitiert Theodor Reik, um sich Kafka vollständig zu erschließen: „Der Masochist ist ein Revolutionär in der Selbstaufgabe ... Die Nachgiebigkeit schließt den Irotz ein, die Gefügigkeit die Widerborstigkeit. Unter der Sanftmut ist Härte, unter der Unterwürfigkeit Aufruhr verborgen.“ Diese Erfahrungen waren die Voraussetzungen für seine Produktivität, wie auch für das Glück, das er bis heute empfindet, überhaupt überlebt zu haben und dem Verbrechen entkommen zu sein: „1943, Jahr der äußersten Gefahr, wie es auch das Jahr war, in welchem sich ... die fast körperliche Gewißheit (in mir festsetzte), daß von nun an sich nichts mehr ändern würde, daß ... ich bis ans Ende meiner Tage derjenige bleiben würde, der ich war, zufällig in jenen hineingossen, der ich war und der ebenso gut ein anderer hätte werden können. Und seitdem ... hat sich nichts geändert: ich bin immer noch zwischen meinen beiden Schläfen, wie ich es an diesem Tag im März 1943 gewesen bin, eine Art ununterbrochene Selbstentfesselung.“?! Renate Göllner lebt als freie Publizistin in Wien und ist Redakteurin der Zeitschrift sans phrase. 2009 erschien von ihr im Peter Lang Verlag die Publikation Schule und Verbrechen. Die Vertreibung jüdischer Schülerinnen und Schüler von Wiens Mittelschulen. Oktober 2016 11