OCR
wäre eine andere. Ihr müsstet nicht leben mit ihrer schrecklichen Trauer, die sie an euch weitergibt wie eine Verpflichtung. „Das Haus, das ich einmal haben werde“, sagte Rashid, „ist das, das wir in Grosny hatten und das zerstört wurde.“ Es klang wie ein Versprechen. Ob er sich so genau erinnern könne? Er schloss die Augen. „Da ist links eine Tür und du gehst in die Küche und von dort geht wieder eine Tür ab, die führt in ein kleines Zimmer, da steht ein rotes Sofa mit vielen Polstern, und rechts am Ende des Ganges ist das Schlafzimmer meiner Eltern und daneben das von den Schwestern ...“ So viele Türen, es kam mir vor, als ob er jede einzelne Klinke drückte, die Tür öffnete, mit einer Handbewegung zum Eintreten aufforderte, einlud Gast zu sein in seinem Haus, das nicht zerstört und nicht bedroht war. Bruno Schernhammer Kontaminierte Landschaft „Ich werde nach Hause zurückgehen!“ Wie oft er den Satz schon wiederholt hatte. Das war wohl der Satz, an dem er sich festhielt. Plötzlich grinste er, für einen Augenblick ahnte man, wer er geworden wäre, wenn es keinen Krieg gegeben hätte. Könnte man ihn für unbeschwert halten. „Eigentlich ist mein Traumjob aber Zahnarzt.“ Die Mutter fuhr auf, das hatte sie offenbar noch nie gehört, ein Redeschwall ergoss sich über ihn, dann wurde ihr klar, dass ich kein Wort verstand und sie besann sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin und fragte auf Deutsch: „Warum?“ Er hob beide Hände, ließ sie fallen. „Ich weiß auch nicht. Vielleicht, weil ich mich vor dem Zahnarzt fürchte. Und weil ich dann Leuten helfen kann und gut verdiene.“ Die „Reichsautobahn“, durch deren Bau, so eine gängige Überlieferung, Hitler so vielen Arbeitslosen in Deutschland Beschäftigung verschaffte, gehört zu den bekanntesten Mythen des nationalsozialistischen Deutschland. Auch für die damalige „Ostmark“ gilt der Autobahnmythos, denn ab 1938 bis zum Winter 1941/42 wurde auf dem Gebiet von Salzburg bis Wien der Bau der Reichsautobahn vorangetrieben. Heute verläuft ein Großteil der wichtigsten österreichischen Autobahn Al entlang dieser Trasse. Auch diese bekam Symbolcharakter und war ein Teil offizieller österreichischer Selbstinszenierung in der Nachkriegszeit. Der noch unveröffentlichte Roman „Und alle winkten“ erzählt die verdrängte Geschichte einer „kontaminierten Landschaft“ (Martin Pollak). Er erzählt von polnischen Zwangsarbeitern und russischen Kriegsgefangenen, die auf der Baustelle schufieten; er erzählt von lebensvernichtenden Arbeitsbedingungen und dem gigantischen Aufwand fiir ein Unternehmen, das propagandistisch als Erfolesprojekt aufgebaut wurde, mit dem sich Bürgermeister und Provinzpolitiker schmückten. Der Roman geht sehr nah an historischen Fakten entlang und ist nach Originalquellen gearbeitet. Bei Interviews mit älteren AnrainerInnen und Archivrecherchen fand der Autor immer mehr Hinweise auf die unbequeme und nicht überlieferte Vergangenheit der Region, auf Schicksale und Verbrechen, über die buchstäblich „Gras gewachsen“ ist. In dem Roman geht es zentral darum, den Menschen, die damals in dieser Gegend dem Mythos „Reichsautobahn“ geopfert wurden, den vergessenen, achtlos vergrabenen Gegnern und Opfern des Faschismus, Namen und Biografien zurückzugeben. Die erzählten Geschichten sind prototypisch für viele österreichische Landstriche, sicher aber für alle Orte entlang der vielen Baustellen der Reichsautobahn. Die verdrängte Geschichte wird anhand von drei Protagonisten erzählt, die jeweils für eine Epoche stehen. Der letzte Protagonist, die Kunstfigur Gwowa Olbschema, erzählt die Geschichte nach der Einstellung des Autobahnbaus im Jahre 1942 bis zu ihrer Wiederaufnahme. Bei der aufwendig gestalteten Eröffnung im Jahre 1961 wird er sich erinnern, dass da noch etwas war, im Winter 1941/42 — ein „Russenlager“. Wenige Monate später war das nächste Teilstück fertig gebaut. Zuletzt waren die Gräben in der Mitte zwischen den Fahrbahnen mit frischer Erde aufgeschüttet und kleine Sträucher daraufgesetzt worden. Mit der Eröffnung ließ man sich Zeit, es sollte eine besonders erhabene Feier zelebriert werden. Drei Wochen vor den Landtags- und Gemeinderatswahlen wird diese „für die Wirtschaft und den Fremdenverkehr wichtige und modernst ausgebaute WestOst-Verbindung“ (Salzkammergut Zeitung, 1961, Nr. 40, S. 1) freigegeben werden. Der Handelsminister selbst war angekündigt. Die autobahnfreundlichste Partei hatte eine absolute Mehrheit im Lande zu verteidigen. Im Dorf selbst standen drei Parteien zur Wahl. Auf der dritten Liste kandidierte der ehemalige Ortsgruppenleiter, Bürgermeister und spätere Kreisleiter an erster Stelle. Der zeitlich dritte und damit letzte Ortsgruppenleiter stand bei der zweiten Liste an zweiter Stelle gereiht. Der zeitlich zweite Ortsgruppenleiter und ehemalige Schulungsleiter der Partei war inzwischen Hauptschuldirektor und Leiter des Katholischen Bildungswerkes. Alle drei und noch viel mehr standen an der Autobahn, die Landesregierung war fast vollständig vertreten. „Die Privatautos standen in Viererreihen über einen Kilometer dichtauf.“ Unaufhörlich trafen neue Gäste und Ehrengäste ein, von einigen Tausenden werden die Zeitungen berichten. Die Schüler standen am Rand der Fahrbahn und winkten mit kleinen rotweißroten Fähnchen, als ein Hubschrauber von Süden auf den Festplatz zuflog und neben der Ehrentribüne landete. Ihm entstieg der Bundeskanzler, er hatte Orden mitgebracht, die er „verdienten baubeteiligten Beamten, Ingenieuren, Konstrukteuren, Angestellten und Arbeitern ...“ überreichte. Ein Festredner nach dem anderen trat auf das Rednerpult zu. Der Landeshauptmann sprach von der Schönheit des Werkes, so dass ihm „das vollbrachte Werk vollkommene Freude bereite“. Nicht nur ein Werk der Schönheit, sondern „auch eine Dokumentation der Leistungsfähigkeit“ sei es, hatte er ergriffen weitergesprochen, ein „gigantisches Werk“, welches „durch eine herrliche Landschaft“ führt. Sein Blick hatte sich nach Süden gewandt, alle Zuhörer wussten, dass er auf den herrlichsten Berg des Landes schaute. Dieses „gigantische Werk“ bezeugt auch, hatte er weitergeredet, was „österreichisches technisches Oktober 2016 33