darübergewischt, abwechselnd die Essschüsseln nachgeleckt. Ihre
Zungen waren zwischen den Lippen hervorgetreten, es waren
weniger Zähne als Zahnlöcher zu erkennen. Auch die Zungen
waren angeschwollen, bei einigen so dick und rot, dass sie sich
kaum zwischen den angeschwollenen Lippen durchdrängten. Die
Lippen waren mit Suppenresten verschmiert, die Zungen hatten
die Lippen umrandet, hatten die verkrusteten und eiternden
Mundwinkel abgeschleckt. Immer wieder von Neuem, langsam,
als wollten sie nicht aufhören nach Essbarem an den Mundrändern
zu suchen. Erst jetzt fiel Gwowa auf, dass die Männer kaum mitei¬
nander sprachen, nur wenige Worte waren gewechselt worden. Sie
hatten sich auf ihre Betten gesetzt. Wären sie nicht so dünn und
abgemagert gewesen, hätten sie sich kaum zwischen den Betten
bewegen können, ohne einander anzurempeln. Noch deutlicher
als bei der Ankunft sah Gwowa, wie abgemagert sie waren, nur
die Bäuche hoben sich ab. Es ergab ein lächerliches Bild. Diese
Figuren, an den Armen nur Knochen und Haut, an den Beinen
nur Haut und Knochen, die Rippen an der Brust hervorgetreten,
nur Haut lag darüber, das Gesicht mit den geschwollenen Lippen
und diese aufgeblähten Bäuche. Gwowa sah, wie sie beim Gehen
zwischen den Betten ihre Bäuche einzogen um aneinander vorbei
zu kommen. Im Raum roch es eindeutig nach Käse. Hatten sie
Käse als Nachspeise bekommen und unter ihren Jacken auf die
Baracken mitgenommen? Es war nichts von Käse draufgestanden,
als das Wehrkreiskommando die neuesten Verpflegungssätze für
die neuen Gefangenen verlautbart hatte. 155 Gramm Zucker
war darauf getippt gewesen, und mit Kartoffeln sollte sparsam
umgegangen werden. „Der Anteil der Kohlrüben ist so hoch als
möglich — mindestens auf 50 v. H. — zu bemessen“ (zit. nach Keller
S. 148). 47,5 Gramm Quark war draufgestanden, aber Quark
roch anders und vor allem hatte cs keinen Topfen, wie man hier
im Dorf sagte, zum Abendessen gegeben. Die Verpflegungssätze
von 47,5 Gramm Topfen und 155 Gramm Zucker, auch die
dreieinhalb Kilo Kartoffel waren jeweils für eine Woche geplant,
jedenfalls war es so auf dem Papier gestanden. Seine Nase war
sich sicher, es roch nach Käse, es war nicht zu überriechen. Es
roch nach einem weichen, schmierigen Käse, der schon in Fäulnis
übergegangen war. Eine Käserei im nächsten Flusstal war bekannt
für diesen weichen, stark riechenden Käse. Der starke Geruch hatte
scheinbar seinen Sehsinn verwirrt. Erst jetzt nahm er die Füße der
Männer wahr. Sie saßen auf ihren Betten und hatten ihre Füße
freigemacht. Nicht einmal die Hälfte hatten Schuhe. Jedem dieser
Schuhe sah man die Dauer der Märsche an, an manchen Stellen
war die Sohle abgelöst, anderen fehlte die Schuhzunge, Ösen
waren ausgerissen, kein Schuhband, das nicht schon mehrmals
verknotet war. Egal wie die Schuhe aussahen, wer Schuhe und
Mantel hatte, war unter diesen ein König. Die meisten hatten
Stofffetzen um ihre Füße gewickelt, mehrere Lagen schmutzige,
durch die Nässe der Straßen und Wege nass gewordene Fetzen
anstatt der Schuhe. Jetzt lagen die Stofffetzen auf dem Boden oder
an den Bettkanten aufgehängt zum Trocknen. Das Hinschauen
fiel ihm schwer, draußen waren die Nebel dichter geworden, sie
überdeckten das Tal und das Lager. Zum Nebel kam die Feuchte,
die in alle Häuser hineinzog. Der Geruch kam nicht nur von
den Stofffetzen, die herumhingen oder herumlagen. Einer der
Männer betrachtete seinen rechten Fuß, der mit Blasen übersät
war. Nicht nur an Ferse und Zehen waren diese gelblich gefärbten
Erhöhungen der Haut sichtbar, sie überzogen die ganze Ober¬
fläche des Fußes. An einer Ferse fehlte die Haut, darunter kam
eine dunkle neue Schicht zum Vorschein. Vorne am Fuß, zählte
Gwowa vier Zehen, ein kleiner Stumpf des fehlenden Zehs war
noch erkennbar, der mittlere der Zehen war schwarz gefärbt. Die
meisten starrten vor sich hin, drehten manchmal ihren Kopf und
blickten, als schauten sie ins Leere. Ein Mann erhob sich von sei¬
nem Bett und trat vorsichtig auf. Die Innenseite seines Knöchels
war offen, die verletzte Stelle war noch nicht verkrustet, sondern
feuchtelte in hellem Rot. Viele der Männer hatten offene Wunden
an ihren Füßen. Der Geruch ließ ihn nicht mehr weiterdenken,
es roch nicht nach irgendeinem Käse, es roch nach Käse, in dem
die Fäulnisbakterien schon volle Arbeit geleistet hatten. In seinem
Kopf sah er das Bild eines rot eingepackten Schimmelkäses, der
zwei Wochen in der prallen Sonne gelegen war.
Auf 3.870 Kilometer war das Netz der Reichsautobahn angewach¬
sen. Auf weiteren 2.000 Kilometern war mit dem Bau begonnen
worden. Inzwischen war der Großteil der Baustellen eingestellt,
nur mehr an einigen hunderten Kilometern wurde gearbeitet. Es
war absehbar, dass auch der Bau der Almtalbrücke bald ein einst¬
weiliges Ende nehmen wird. Das letzte Widerlager soll noch fertig
gebaut und an der Trasse sollen die Arbeiten soweit erfolgen, dass
nachher, wenn die Techniker und die jungen deutschen Arbeiter,
die jetzt im Westen und im Osten, im Süden und im Norden
gebraucht werden, nachher, was spätestens nach dem Winter sein
wird, die Arbeiten wiederaufgenommen werden können und ...
An den verlassenen Baustellen und an den Baustellen, an denen
die letzten Arbeiten vorgenommen wurden, standen die vielen
Barackenlager der R.A.B. Gesellschaft. „Für diese Aktion stelle ich
... “hatte der Reichsminister für Bewaffnung und Munition mit¬
geteilt „in RAB-Lagern Unterkunft für sofort 30.000, ab 15.1.1942
zusammen 50.000 Kriegsgefangene bis auf weiteres bereit“(Keller,
5. 325). Nicht nur ins Lager Almtal waren sie eingezogen. In
alle leeren oder bis dahin mit polnischen, serbischen oder fran¬
zösischen Arbeitern besetzten Barackenlagern waren russische
Kriegsgefangene verfrachtet worden. Allein entlang der Trasse in
Oberdonau waren es mehr als dreißig Lager. Auch südlich und
westlich von Wien und rund um Salzburg wurden die Baracken
mit russisch, weißrussisch, ukrainisch, georgisch, armenisch oder
andere Sprachen sprechenden Menschen gefüllt.
Der Mann mit den vier Zehen war im Lager geblieben, der mit
dem Loch in der Fußsohle durfte sogar im Bett bleiben. Nicht
einmal die Hälfte der Gefangenen zog am ersten Tag raus zur
Arbeit. Jeder hatte eine Schaufel bekommen. Los, marsch, hat¬
ten die Wachtler geschrien. Der Trupp hatte sich in Bewegung
gesetzt. Aber wie, es war eher ein Taumeln, ein Vorwartsirren,
nichts von Geradlinigkeit oder festem Schritt. Die mit Stofffetzen
umbundenen Füße setzten leise auf der steinigen Straße auf. Kein
Aufwirbeln von Staub und kein lautes Aufstampfen, sondern ein
Ziehen und Dahinwinden von knöchrigen Gestalten. Wie sollen
die arbeiten, hatte ein deutsch sprechender Vorarbeiter geschrien,
die können ja kaum ihre Schaufeln tragen, gerade dass sie die
Schaufeln nicht als Krücken zum Vorwärtskommen gebrauchen,
hatte er einen Witz versucht. Langsam zog der Irupp den Berg
hinunter. Im Frühnebel konnte man meinen, Gespenster zögen
ins Tal. Das Bergaufgehen auf der anderen Seite des Flusses sah
noch erbärmlicher aus. Gwowa hörte ihr Keuchen. Die Ersten
blieben nach wenigen Metern das erste Mal stehen, versuchten
tief Luft zu holen. Die dahinter Gehenden hatten das Anhalten
der Vorderen zu spät bemerkt. Es schaute aus, als ob sie überhaupt
wenig wahrnahmen. Wie hölzerne Marionetten, die Körperteile