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In dieser Stunde des Lebens schöpft er Verdacht, im Publikumsraum zu sitzen und auf sein Leben zu schauen, als könnte er in einem Album blättern und sich in die schönen Erinnerungen wickeln, die er sich als Kind ausgedacht hat. Doch die Gegenwart dauert an und sie hat ein untrügliches Signal. Sie wirkt auf den Körper und diese Wirklichkeit kratzt. Er wird ungemütlich. Er stellt sich auf die Waage. Die Wirklichkeit verlangt eine spezielle Form der Disziplin. Er strengt sich mit Hunger und Durst mächtig an, seine Triebe in den Griff zu kriegen. Er nimmt ab, hat keine Lust und verdient Geld. Diverse Substanzen können ihn glücklich machen. Er steht herum wie der Kasten, liegt im Bett wie die Decke, verzettelt sich wie der Nippes, schleppt sich durchs Leben wie ein Requisiteur, dessen Depots leergeräumt sind. Schluckend tritt er über die Schwelle und geht schnurstracks über den Teppich in den Existenzraum des Wohnzimmers. Er isst, atmet, liebt, verdaut, um nur nicht vom Irrtum aufgegessen zu werden. Er stellt die Bücher wieder zurück ins Regal. Er schüttelt die Kissen auf, bevor er die Füße auf das niedrige Tischchen legt und sich zurücklehnt. In der Nische des Haustores steht der Körper von Gestern. Die Haut ist von Wind und Wetter gegerbt. Er trägt einen groben Mantel und nimmt die Münze mit dem Becher auf. Er rekelt sich in der Sonne auf seine routinierte Art. Er streift sich Handschuhe über und schiebt die Finger in die löchrigen Tunnel aus Wolle. Dann wird die Hand wieder aufgemacht. Sie bietet den Körper der Geringsten an. Er wirft sich weg in die Tonne. Die Tonne ist voll mit Geschlechtsteilen und sage und schreibe Zungen und Herzen. Es gibt keine Haut drin, die spüren wollte, was sie gespürt hat, bevor sie hier gelandet ist. Die Integrität des Körpers wurde zerstört, nicht würde, wurde. Musiker, die auch auf der Straße als Dienstleister anerkannt sind, mehr vom Tuten und Blasen verstehen, legen ihre Instrumente ab, wenn sie frei haben. Körper können ihre Körper nicht ablegen. Nie kann ein Körper sich als Instrument verrichten. Es kommt immer etwas heraus bei einem Körper. Sei es eine Inspiration oder gar ein Kind, sei es der Ekel, sei es nichts. Der Körper setzt Fuß vor Fuß zielstrebig hin, und hält sich stabil. Im Getöse der Einkaufsstunde, dem Dampfen der Abzugshauben aus den umliegenden Küchen, den Durchsagen der großen und kleinen Gewinne, der Sonderaktionen auf der Bummelstraße, erhebt sich die Stimme einer Sängerin. Sie wird immer lauter, nicht mündiger, aber gehörig. Der Körper ist auf dem Wege nach Hause, wo er sich des nachts noch gegen die Moral verhalten will. Das Handy gibt einen Laut. Das Treffen in Liebe ist bestätigt. Die Stimme der Sangerin verliert sich in der Klangfarbe der kommenden Zweisamkeit. Die Sangerin schnappt nach Luft, als wollte sie Fliegen mit der Zunge fangen. Von diesem Augenblick an jault sie, anstatt zu singen. Drei Männer gehören zu ihr. Drohende Gestalten, grölend aus sich herausfahrend, stampfend, die Flaschen ansetzend und Passanten taxierend. Das Jaulen der Sängerin bringt sie auf die Idee, für die Aufführung ihres Untergangs, den sie auf dem letzten Loch pfeift und quietscht, Eintritt zu verlangen. Der Körper will schnell an dieser Gruppe vorbei. Die Typen stellen sich ihm in den Weg. Der eine mit dem Bier, der andre mit dem hellbraunen Übergangsmantel, der eine mit dem Glasauge, der andre mit der dicken Uhr, der eine mit der Spiegelbrille, der andre mit dem Kettchen, der eine ohne all dem, der andre mit allem drum und dran, der eine wie der andre. Vor der Stereotype ist niemand gefeit, selbst der Körper auch ohne Attribute. Er drängt sich durch den Spalier. Aber plötzlich steht er im Mittelpunkt. Die Typen umkreisen ihn. Bevor sie auf den Leib rücken, erhascht der Körper in der Reflexion des Schaufensters sein unverschrtes Bild. Dazu stechen die Schreie ins Ohr. Der Körper kann sich schen und erkennen im Gejaule der Sängerin. Das Gesicht ist viel kleiner als gedacht, doch vertraut, während der korporale Rest, seine Ausformung als Gewandung verfremdet. Unwichtig fast, aber ein wohlgestaltetes Bild. Die Augenbrauen zucken, als sendeten sie sich ein Zeichen der Skepsis, beim Gedanken, das bist Du. Die Nase, der Mund, das Kinn, der Hals, auch der dich kleidende Mantel sind in ein ungewohntes Körperbild geraten. Das Anschen dieses Körpers hat nun fremdgeschen betrachtet ein austauschbares Format. Er steckt in hochhackigen Schuhen, was ihm Zuschreibungen einbringen kann. Deudlich aber tritt bei der Ansicht dieser Gestalt zu Tage, dass der Körper Geld in der Tasche hat. Die Sängerin verliert jede Tücke in diesem Moment. Sie hat Zähne und zeigt sie. Aus der Kehle quetscht sie die letzten Krächzer. Die Typen übernehmen die Regie und flüstern den Körper umzingelnd ganz nah am Ohr: Hörst du nicht, ihre Lieder? Die Jaulerin singt um Leib und Seele, und wovon soll sie leben, wenn der Körper nicht dafür zahlen will? Wie soll sie ihre schöne Stimme erhalten? Für diese Leistung nichts zahlen? Die Typen holen aus. Der Schlag wird gebremst. Der Körper trifft die Hand des einen oder anderen, Passanten können weitergehen. Der Körper öffnet den Mund und bellt gegen die Bedränger: Pfoten weg. Das reicht zwar, um den Griff zu lockern. Dennoch hat die Handgreiflichkeit stattgefunden. Die Not nimmt zu. Die Sängerin stößt ihre schwachen Schreie aus. Ihr elender Körper lehnt an der Mauer. Die Gewalt steckt im Zugriff, der durch den Stoff geht, durch den Pullover, durch die epidermischen Schichten bis nichts mehr da ist, als das Gewimmer. Die Wut, die jetzt auflammt und im Gehirnlappen diese Geschichte in Gang gesetzt hat, die sich in diesem Augenblick, als Geschichte der Sängerin versteht, wird zur Geschichte gegen die Verwerfung des Körpers. Also, her mit der Kohle. Vorgetragen bei dem vom Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur in der Volkshochschule Wien-Ottakring veranstalteten Symposium „Ästhetisierung der Prostitution. Geschichte und Gegenwart“ am 5. März 2016. Die Ergebnisse dieses Symposiums werden 2017 in Buchform publiziert. Bei dem Symposium sprachen Pascal Teixeira da Silva (Botschafter Frankreichs in Wien), Claudine Legardinier (Paris), Katharina Prager (Wien), Konstantin Kaiser (Wien), Trine Rogg Korsvik (Oslo), Christa Gürtler (Salzburg), Ingrid Strobl (Köln) und Sonja Pleßl (Wien). Von Lydia Mischkulnig ist dieser Tage der Erzählband „Die Paradiesmaschine“ im Haymon Verlag erschienen. Oktober 2016 43