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Zehra Gırak

Wie schön kann cs sein sich hinzusetzen, wenn man ganz in Ge¬
danken ist. Wie wunderbar ist es, sich dann auch noch mit dem
Rücken anlehnen zu können. Solch eine seelische Anlehnung
empfand ich bei meiner Entdeckung der Gedichte von Marie
Luise Kaschnitz.

So las ich ihre Gedichte unter anderem in ihrem Gedichtband
mit dem Titel ÜBERALLNIE.

Wo

Wo. Bei den winzigen Schneckenhäusern
Im knöchernen Distelgezweig
Der sizilischen Hügel

Oder im Dunststreif

Künstlich fontänengleich

In den Äther geführt

Von der rasenden Staffel.

Im Hochmoor

Im wächsernen Wollblumenhaupt
An dem ich vorübergehe

Weinend nichtsahnend.

Im Lichifleck

Der hinstreift nachts

An der Wand meines Zimmers.
Im Libellenflügel der surrt

In der Glocke die hämmert.

Du

Überall Nirgends

Liebe Marie Luise Kaschnitz.
so will ich Begegnung an Deine Worte angelehnt.

Leider haben wir uns weder im Nirgends des Zeit-nimmers be¬
gegnen können noch im Überall-immer durch Zeitgleichheit ken¬
nenlernen dürfen. Dennoch erlaube ich mir zu behaupten, Dich
durch Deine Gedichte, die ich gelesen habe, ein winzig-kleinwenig
zu kennen und bin so frech und frei, Dich einfach zu duzen.

Du bist 1901 in Karlsruhe geboren, in Berlin und Potsdam
aufgewachsen, bevor Du dann Deiner Wege gingst. Ich bin 1960
in Istanbul geboren, in Karlsruhe aufgewachsen und lebe schon
die längste Zeit meines Lebens in Berlin. Jetzt hier in Karlsruhe im
Frühjahr 2016 begegnen wir uns kurz in Wort bei Wort.

Wir sind Schriftstellerinnen, Dichterinnen.
Die Welt kennt Dich, Deine Werke und Deine Lebensstationen.

Du hast mit Deiner wunderbaren Dichtung, Deinem Schreiben
unter den Menschen ein großes Leuchten verbreitet. Ich versuche,
auch wenn ich nur in kleinen Schreibzuckungen Nlackere, mit
meinen Worten ebenfalls ein wenig Licht zu geben.

Deinen Namen und vom Ruhm Deiner Texte habe ich gewusst,
doch ich habe erst jetzt im Jahre 2016 Deine Lyrik für mich ge¬
funden. Nicht alle, aber viele Deiner Gedichte habe ich gelesen.
Spät habe ich sie entdeckt, und das in einer für mich recht dunklen
und schweren Zeit des Schmerzes, in der ich lernen muss, mit dem
Verlust des mir naheliegendsten und liebsten Menschen, der mir
weggestorben ist, zu leben. Auch Du hast in der Mitte Deines Le¬
bens Deinen Mann, Dein Liebstes verloren. Durch Deine Gedichte

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habe ich gelernt, meine eigenen nun etwas anders aufzuspüren
und zu lesen. Meine einst noch mit Leichtigkeit im Leben über
den Tod und den Schmerz geschriebenen Texte lese ich jetzt wie
von fremder Hand gezeichnete Bilder, wie mit den Augen eines
anderen, gefüllt mit Schwermut.

Das von Dir stammende folgende Gedicht, habe ich so wie Du
es schriebst, am eigenen Leibe erlebt.
Ich lehne mich an.

Weiß noch

WeifSnoch, weifSnoch

Den Vogel Unheil,

Seh ihn noch hocken,

Seh ihn noch hüpfen

Im Käfig über dem Bett uns.
Seine Federn wuchsen,

Seine Flügel wurden kräftig.
Ach wie ich ihn auf den Schoß nahm,
Ihn hegte und wiegte,

Gleich einer Taube,

Hielt ich ihn auf dem Schoß.
Wie ich ihn fütterte,

Mit Süßholz zuerst,

Dann mit Herzblut,

Daß er nicht aufflöge,
Geierkahl krächzend,
Wei(Snoch, weifsnoch,

Wie er sich losrifS

Geierkahl krächzend

Die Sonne verschlang.

Wenn der Tod einem den Lieblingsmenschen nimmt, dann kommt
man in die Versuchung zu denken, niemandem nirgends ginge
es schlechter in der Welt. Also mit Deinen Worten, liebe Marie
Luise, „Überallnie“ ginge es jemandem so schlimm wie gerade
einem selbst. Auch ich trat in solche Denkversuchung und tripple
zeitweise noch immer auf den Zehenspitzen auf diesem Pfad.

Doch ich weiß natürlich, dem ist nicht so. Schon immer und
überall gab und gibt es Schmerz, Tod, Verlust und Leid.

Es gibt den Wunsch, sich in einen Stein zu verwandeln, der
nichts empfindet.

Es gibt den Wunsch, wie gelähmt steckenzubleiben und alles
Leben drumherum zu ignorieren. Es gibt den Wunsch, in die
finstren Löcher, die sich ständig vor einem auftun, zu fallen und
immer weiter zu fallen wie ein gewichtiger Stein in einem Brunnen,
der kein Untenende hat.

Es gibt den Wunsch, durch irgendetwas oder irgendwen an¬
geschubst aus der Starre wieder in Bewegung zu geraten und das
Schöne im Leben zu genießen.

Wie es wohl wäre, wenn wir uns in diesem Brunnen befänden
und aus dem Brunneninneren heraus beobachten könnten, wer
oder was, wie lange fäll? Und wie schwer?

Wie ein Flüstern höre ich aus Deinem Brunnen Dein Gedicht
ertönen.