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Lisa Grimm Zugefallen „Ein Aschenputtel müsstest halt sein“, sagte der Bruder ihrer Mutter einst zu ihr, der Volksschülerin. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Das Schicksal der Halbwaise, die auf Errettung angewiesen war, war alles andere als erstrebenswert, fand sie. Besonders wenig mochte sie die Passage, in der das Aschenputtel, endlich in prachtvolles Gewand gehüllt, den Ball besuchte, doch zu Mitternacht gezwungen war, diesen fluchtartig zu verlassen. Und dass sie dabei den Schuh einbüßte, daraufhin auf Gedeih und Verderb dem detektivischen Spürsinn dieses Prinzen ausgeliefert wat, der sich so gefällig in die Irre führen ließ. Ihnen also den Schuh anbot. „Wenn der Schuh passt..., ja dann?“ Heute versteht sie das als grausame Willkür. Der Schuh passte den Stiefschwestern nicht. Und um ihn passend zu machen, malträtierten sie ihre Füße — Zehe ab, Ferse ab. Sie konnte dem nichts abgewinnen. Zumal ihr zu kleines Schuhwerk schon in frühesten Kindertagen ein Gräuel war. Schuhe die drückten. Und ihre taten das nicht selten. Denn sie wuchs schnell. So attestierte es auch der Kinderarzt und die Mutter hatte wenig Geld, passende Schuhe zu besorgen. Wie konnte sich der Bald-Regent nur so blenden lassen? Er hatte doch mit dem Aschenputtel getanzt. Er musste doch schen, dass es sich bei den Stiefschwestern nicht um die von ihm Erwählte handelte? Aber er überreichte ihnen dennoch einer nach der anderen den Schuh. Ließ sich glauben machen, dass dieser passte. „Denn wenn der Schuh passt, dann...“ „Rucke di guh, Blut ist im Schuh, der Schuh ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim“, gurrten die Tauben dem Prinzen auf dem Weg in den Palast zu. „So ein Hohlkopf“, dachte sie damals, befand, dass er seine Chance verspielt hatte, und war überhaupt nicht zufrieden, dass der Prinz umkehrte, um nochmals sein Glück zu versuchen. Schließlich schaffte er es doch, das Aschenputtel aufzuspüren, in der Kutsche in sein Reich zu bringen. „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“, klang ihr wie eine Drohung. Doch zumindest den zweiten Schuh hatte das Aschenputtel schließlich wieder. Und Schuhe waren die halbe Miete zu einem geglückten Leben, war sie überzeugt. „Studier doch was mit Wirtschaft“, lautete der Wunsch der Mutter. Sie wusste um den Stolz der Mutter, dass sie als erste in der Familie maturiert hatte und ihr somit die universitäre Welt offen stand. Für sie war jedoch klar, dass man wirkliche Freiheit nur mit dem Erlernen des Schusterhandwerks erlangen konnte. Nur dann entging man dem Schicksal zweifelhafter Schuh-Finder und von zu engem, drückendem Schuhwerk. Auch der gestiefelte Kater war richtungweisend für ihren beruflichen Werdegang. Mit den richtigen Schuhen kommt man weit und schnell im und durchs Leben. Und vielleicht ließen sich so die Zufälligkeiten beeindrucken. Nicht, dass man sie vermeiden konnte. Doch es hieß Sprung, Satz, Sieg, wenn im Tennis-Court des Lebens ein Fensterglas aus dem Rahmen eines Altbaufensters fiel oder sich der Balken eines Dachsimses plötzlich löste. Die Tante war auf diese Weise verunglückt. Das Kopfsteinpflaster hatte sich fest an ihren Absatz gekrallt, als ihr der Ziegel auf den Kopf fiel. Sie war sicher, dass dies mit den richtigen Schuhen nicht passiert wäre. Abgesehen von einem Zuviel an Schuhen — davon einem Zuviel an Schuhen, die zwickten und Blasen verursachten, die Plastikgeruch verströmten, einem Zuviel der 48 _ ZWISCHENWELT Nur-einmal-zu-Tragenden-weil-gleich-wieder-aus-der-ModeGekommenen — dominiert doch die Welt ein Zuwenig an Schuhen. Zur Gesellenpriifung legte sie dem Paar Sandalen, das sie fertigte, einen Schuhatlas bei. In diesem Atlanten hatte sie die Schuhkonzentrationen der Welt erfasst. Es war nicht leicht gewesen, Statistiken zu Schuhwerk zu eruieren, doch bis auf Ausnahmen wie zum Beispiel Turkmenistan, Nordkorea, den Ecuador zugehörenden Galapagos Inseln und noch ein paar entlegenen Winkeln, in die mehr Touristen als Einwohner ihre beschuhten Füße setzten, gelang es hinreichend, die Schuhdichten der Welt zu ermitteln. Es gab nicht wenige derart kartographisch dokumentierte Schuhnotstände und sie schloss sich daraufhin — dies trotz ihrer Widerstände gegen Vereinszugehörigkeiten — einer speziellen Schuhmachergilde an, die sich der Weltenbesohlung verschrieben hatte. Nachts im Traum erschien ihr ein Riese. Er plante, von Afrika aus das Mittelmeer zu queren. Doch seine Schuhe leckten. Er suchte ihren Rat. Sie stand winzig vor ihm, vor dem Fuß-Koloss an dem ein ausgebeulter Schuh steckte. Die Löcher glichen Mondkratern. Hilflos stand sie mit Hammer und Beißzange vor den Krateröffungen. Der Riese weinte bitterlich. Seine Tränen drohten sie zu erschlagen. Sie dachte an die Tante und sprang mit ihren Sandalen von links nach rechts, wich seinen Tränen aus, deren Aufprall die Tropfen zum Zerstieben brachte und ihre Kleidung durchnässte. Sie streckte ihm ihre Hand im weißen Handschuh entgegen. Darin befindlich ein Stofftaschentuch mit Zunftwappen bestickt. Der Riese nahm es an. Blieb aber untröstlich. Schließlich wagte sie es doch und kletterte auf seinen Schuh, versuchte sich am ersten Loch, dessen ledrige Ränder bereits sehr dünn waren und - sie war sich fast gewiss — wohl unrettbar zerschlissen. Sie holte Flickwerk aus der Schürzentasche und zog den Faden durch die Nadel. So begann ein sisyphoshaftes Nähen, von dem sie erst durch ihr Erwachen in den frühen Morgenstunden erlöst wurde. Auch in der Nacht darauf suchte sie der Riese heim. Sie fürchtete seine Besuche, gleichzeitig wollte sie ihm helfen. Zu diesem Behuf war sie doch Schuhmacherin geworden. Ärger überfiel sie, wenn sie sich scheitern spürte. Nicht einmal einen Schuh sollte sie licken können?! Doch dann wurde sie wieder der Dachstein-gebirgigen Dimensionen ansichtig und setzte Nacht für Nacht die hoffnungslose Flickarbeit fort. Ihre Appelle an die anderen Schuhmacher, an die Brüder und Schwestern, blieben zart und erstickt. Auch sie wurde nicht erhört. So ging es über Wochen. Es ließ sie erschöpfen bis in die Traumlosigkeit. Nach ein paar traumlosen Nächten erschien der Riese doch wieder. Sie hörte Meeresrauschen. Dann sah sie am Horizont einen gigantischen Hügel. Inselgleich trieb der tote Riese im Mittelmeer. Von Lisa Grimm, vormals Kerimi, erschienen zuletzt Fuß in der Tür ZW Nr. 4/2015) und Gedichte (ZW Nr. 2-3/2015).