„Ein Aschenputtel müsstest halt sein“, sagte der Bruder ihrer
Mutter einst zu ihr, der Volksschülerin. Ein Schauer lief ihr über
den Rücken. Das Schicksal der Halbwaise, die auf Errettung
angewiesen war, war alles andere als erstrebenswert, fand sie.
Besonders wenig mochte sie die Passage, in der das Aschenputtel,
endlich in prachtvolles Gewand gehüllt, den Ball besuchte, doch
zu Mitternacht gezwungen war, diesen fluchtartig zu verlassen.
Und dass sie dabei den Schuh einbüßte, daraufhin auf Gedeih und
Verderb dem detektivischen Spürsinn dieses Prinzen ausgeliefert
wat, der sich so gefällig in die Irre führen ließ. Ihnen also den Schuh
anbot. „Wenn der Schuh passt..., ja dann?“ Heute versteht sie
das als grausame Willkür. Der Schuh passte den Stiefschwestern
nicht. Und um ihn passend zu machen, malträtierten sie ihre
Füße — Zehe ab, Ferse ab. Sie konnte dem nichts abgewinnen.
Zumal ihr zu kleines Schuhwerk schon in frühesten Kindertagen
ein Gräuel war. Schuhe die drückten. Und ihre taten das nicht
selten. Denn sie wuchs schnell. So attestierte es auch der Kinderarzt
und die Mutter hatte wenig Geld, passende Schuhe zu besorgen.
Wie konnte sich der Bald-Regent nur so blenden lassen? Er
hatte doch mit dem Aschenputtel getanzt. Er musste doch schen,
dass es sich bei den Stiefschwestern nicht um die von ihm Er¬
wählte handelte? Aber er überreichte ihnen dennoch einer nach
der anderen den Schuh. Ließ sich glauben machen, dass dieser
passte. „Denn wenn der Schuh passt, dann...“ „Rucke di guh,
Blut ist im Schuh, der Schuh ist zu klein, die rechte Braut sitzt
noch daheim“, gurrten die Tauben dem Prinzen auf dem Weg
in den Palast zu. „So ein Hohlkopf“, dachte sie damals, befand,
dass er seine Chance verspielt hatte, und war überhaupt nicht
zufrieden, dass der Prinz umkehrte, um nochmals sein Glück
zu versuchen. Schließlich schaffte er es doch, das Aschenputtel
aufzuspüren, in der Kutsche in sein Reich zu bringen. „Und wenn
sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“, klang ihr wie
eine Drohung. Doch zumindest den zweiten Schuh hatte das
Aschenputtel schließlich wieder. Und Schuhe waren die halbe
Miete zu einem geglückten Leben, war sie überzeugt.
„Studier doch was mit Wirtschaft“, lautete der Wunsch der
Mutter. Sie wusste um den Stolz der Mutter, dass sie als erste in
der Familie maturiert hatte und ihr somit die universitäre Welt
offen stand. Für sie war jedoch klar, dass man wirkliche Freiheit
nur mit dem Erlernen des Schusterhandwerks erlangen konnte.
Nur dann entging man dem Schicksal zweifelhafter Schuh-Finder
und von zu engem, drückendem Schuhwerk. Auch der gestiefelte
Kater war richtungweisend für ihren beruflichen Werdegang. Mit
den richtigen Schuhen kommt man weit und schnell im und
durchs Leben. Und vielleicht ließen sich so die Zufälligkeiten
beeindrucken. Nicht, dass man sie vermeiden konnte. Doch es
hieß Sprung, Satz, Sieg, wenn im Tennis-Court des Lebens ein
Fensterglas aus dem Rahmen eines Altbaufensters fiel oder sich
der Balken eines Dachsimses plötzlich löste. Die Tante war auf
diese Weise verunglückt. Das Kopfsteinpflaster hatte sich fest an
ihren Absatz gekrallt, als ihr der Ziegel auf den Kopf fiel. Sie war
sicher, dass dies mit den richtigen Schuhen nicht passiert wäre.
Abgesehen von einem Zuviel an Schuhen — davon ei¬
nem Zuviel an Schuhen, die zwickten und Blasen verur¬
sachten, die Plastikgeruch verströmten, einem Zuviel der
Nur-einmal-zu-Tragenden-weil-gleich-wieder-aus-der-Mode¬
Gekommenen — dominiert doch die Welt ein Zuwenig an Schu¬
hen. Zur Gesellenpriifung legte sie dem Paar Sandalen, das sie
fertigte, einen Schuhatlas bei. In diesem Atlanten hatte sie die
Schuhkonzentrationen der Welt erfasst. Es war nicht leicht gewe¬
sen, Statistiken zu Schuhwerk zu eruieren, doch bis auf Ausnah¬
men wie zum Beispiel Turkmenistan, Nordkorea, den Ecuador
zugehörenden Galapagos Inseln und noch ein paar entlegenen
Winkeln, in die mehr Touristen als Einwohner ihre beschuhten
Füße setzten, gelang es hinreichend, die Schuhdichten der Welt
zu ermitteln. Es gab nicht wenige derart kartographisch doku¬
mentierte Schuhnotstände und sie schloss sich daraufhin — dies
trotz ihrer Widerstände gegen Vereinszugehörigkeiten — einer
speziellen Schuhmachergilde an, die sich der Weltenbesohlung
verschrieben hatte. Nachts im Traum erschien ihr ein Riese. Er
plante, von Afrika aus das Mittelmeer zu queren. Doch seine
Schuhe leckten. Er suchte ihren Rat. Sie stand winzig vor ihm,
vor dem Fuß-Koloss an dem ein ausgebeulter Schuh steckte. Die
Löcher glichen Mondkratern. Hilflos stand sie mit Hammer und
Beißzange vor den Krateröffungen. Der Riese weinte bitterlich.
Seine Tränen drohten sie zu erschlagen. Sie dachte an die Tante
und sprang mit ihren Sandalen von links nach rechts, wich seinen
Tränen aus, deren Aufprall die Tropfen zum Zerstieben brachte
und ihre Kleidung durchnässte. Sie streckte ihm ihre Hand im
weißen Handschuh entgegen. Darin befindlich ein Stofftaschen¬
tuch mit Zunftwappen bestickt. Der Riese nahm es an. Blieb aber
untröstlich. Schließlich wagte sie es doch und kletterte auf seinen
Schuh, versuchte sich am ersten Loch, dessen ledrige Ränder bereits
sehr dünn waren und - sie war sich fast gewiss — wohl unrettbar
zerschlissen. Sie holte Flickwerk aus der Schürzentasche und zog
den Faden durch die Nadel. So begann ein sisyphoshaftes Nähen,
von dem sie erst durch ihr Erwachen in den frühen Morgenstunden
erlöst wurde. Auch in der Nacht darauf suchte sie der Riese heim.
Sie fürchtete seine Besuche, gleichzeitig wollte sie ihm helfen.
Zu diesem Behuf war sie doch Schuhmacherin geworden. Ärger
überfiel sie, wenn sie sich scheitern spürte. Nicht einmal einen
Schuh sollte sie licken können?! Doch dann wurde sie wieder der
Dachstein-gebirgigen Dimensionen ansichtig und setzte Nacht
für Nacht die hoffnungslose Flickarbeit fort. Ihre Appelle an die
anderen Schuhmacher, an die Brüder und Schwestern, blieben
zart und erstickt. Auch sie wurde nicht erhört. So ging es über
Wochen. Es ließ sie erschöpfen bis in die Traumlosigkeit. Nach ein
paar traumlosen Nächten erschien der Riese doch wieder. Sie hörte
Meeresrauschen. Dann sah sie am Horizont einen gigantischen
Hügel. Inselgleich trieb der tote Riese im Mittelmeer.
Von Lisa Grimm, vormals Kerimi, erschienen zuletzt Fuß in der
Tür ZW Nr. 4/2015) und Gedichte (ZW Nr. 2-3/2015).